Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Haar, das um sie herausquillt, der kleine Finger ist ein wenig darin umgebogen, die andern sieht man nicht; jener thut die zarteste Wirkung. Sie weiß nichts davon, sie gedenkt ihrer Reize nicht mehr. Wie sie sich zum Buche herabneigt, das sie ganz natürlich im andern Arm hält, und es mit der Hand oben umfaßt, werden ihre niedergeschlagenen vollen Augenlieder und langen Wimpern beschattet; man glaubt die Spur von Thränen in dem dunklen Rande zu erblicken. Sie hat geweint, heiß wie ein Kind, das von bitterm Schmerz überwältigt wurde, und nun anfängt sich eben so kindlich zu beruhigen. Darauf deutet auch der holdselige Mund; es ist eine Bewegung darin, die in Frieden übergeht. Wie rein und verschmolzen sind die übrigen Züge und das edle Oval des Antlitzes! Rechts wallen die schönen Haare in ihrer Fülle herunter. Schultern und Arme sind bis zum Busen unbedeckt, aber wie sittsam! Das dunkelblaue Gewand geht über den Kopf, daß eben ein schmaler Streif davon sichtbar wird, und ist so von hinten herum, unter den Armen hin, leicht bis zu den Füßen zusammengeschlagen. Ein bescheidner Umriß den Rücken hinab zeichnet sich in den dunklen Hintergrund, die weißen Füße erhellen die grüne Finsterniß ein wenig. Wie sanft der Boden sie zu tragen scheint! Sie kann nicht anders liegen, es ist nichts zurecht gemachtes an der ganzen Gestalt, nicht der leiseste Anspruch." Reinhold. Kennen Sie Mengs Beschreibung dieser letzten Magdalena? Haar, das um sie herausquillt, der kleine Finger ist ein wenig darin umgebogen, die andern sieht man nicht; jener thut die zarteste Wirkung. Sie weiß nichts davon, sie gedenkt ihrer Reize nicht mehr. Wie sie sich zum Buche herabneigt, das sie ganz natuͤrlich im andern Arm haͤlt, und es mit der Hand oben umfaßt, werden ihre niedergeschlagenen vollen Augenlieder und langen Wimpern beschattet; man glaubt die Spur von Thraͤnen in dem dunklen Rande zu erblicken. Sie hat geweint, heiß wie ein Kind, das von bitterm Schmerz uͤberwaͤltigt wurde, und nun anfaͤngt sich eben so kindlich zu beruhigen. Darauf deutet auch der holdselige Mund; es ist eine Bewegung darin, die in Frieden uͤbergeht. Wie rein und verschmolzen sind die uͤbrigen Zuͤge und das edle Oval des Antlitzes! Rechts wallen die schoͤnen Haare in ihrer Fuͤlle herunter. Schultern und Arme sind bis zum Busen unbedeckt, aber wie sittsam! Das dunkelblaue Gewand geht uͤber den Kopf, daß eben ein schmaler Streif davon sichtbar wird, und ist so von hinten herum, unter den Armen hin, leicht bis zu den Fuͤßen zusammengeschlagen. Ein bescheidner Umriß den Ruͤcken hinab zeichnet sich in den dunklen Hintergrund, die weißen Fuͤße erhellen die gruͤne Finsterniß ein wenig. Wie sanft der Boden sie zu tragen scheint! Sie kann nicht anders liegen, es ist nichts zurecht gemachtes an der ganzen Gestalt, nicht der leiseste Anspruch.” Reinhold. Kennen Sie Mengs Beschreibung dieser letzten Magdalena? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0101" n="93"/> Haar, das um sie herausquillt, der kleine Finger ist ein wenig darin umgebogen, die andern sieht man nicht; jener thut die zarteste Wirkung. Sie weiß nichts davon, sie gedenkt ihrer Reize nicht mehr. Wie sie sich zum Buche herabneigt, das sie ganz natuͤrlich im andern Arm haͤlt, und es mit der Hand oben umfaßt, werden ihre niedergeschlagenen vollen Augenlieder und langen Wimpern beschattet; man glaubt die Spur von Thraͤnen in dem dunklen Rande zu erblicken. Sie hat geweint, heiß wie ein Kind, das von bitterm Schmerz uͤberwaͤltigt wurde, und nun anfaͤngt sich eben so kindlich zu beruhigen. Darauf deutet auch der holdselige Mund; es ist eine Bewegung darin, die in Frieden uͤbergeht. Wie rein und verschmolzen sind die uͤbrigen Zuͤge und das edle Oval des Antlitzes! Rechts wallen die schoͤnen Haare in ihrer Fuͤlle herunter. Schultern und Arme sind bis zum Busen unbedeckt, aber wie sittsam! Das dunkelblaue Gewand geht uͤber den Kopf, daß eben ein schmaler Streif davon sichtbar wird, und ist so von hinten herum, unter den Armen hin, leicht bis zu den Fuͤßen zusammengeschlagen. Ein bescheidner Umriß den Ruͤcken hinab zeichnet sich in den dunklen Hintergrund, die weißen Fuͤße erhellen die gruͤne Finsterniß ein wenig. Wie sanft der Boden sie zu tragen scheint! Sie kann nicht anders liegen, es ist nichts zurecht gemachtes an der ganzen Gestalt, nicht der leiseste Anspruch.”</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Kennen Sie Mengs Beschreibung dieser letzten Magdalena?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0101]
Haar, das um sie herausquillt, der kleine Finger ist ein wenig darin umgebogen, die andern sieht man nicht; jener thut die zarteste Wirkung. Sie weiß nichts davon, sie gedenkt ihrer Reize nicht mehr. Wie sie sich zum Buche herabneigt, das sie ganz natuͤrlich im andern Arm haͤlt, und es mit der Hand oben umfaßt, werden ihre niedergeschlagenen vollen Augenlieder und langen Wimpern beschattet; man glaubt die Spur von Thraͤnen in dem dunklen Rande zu erblicken. Sie hat geweint, heiß wie ein Kind, das von bitterm Schmerz uͤberwaͤltigt wurde, und nun anfaͤngt sich eben so kindlich zu beruhigen. Darauf deutet auch der holdselige Mund; es ist eine Bewegung darin, die in Frieden uͤbergeht. Wie rein und verschmolzen sind die uͤbrigen Zuͤge und das edle Oval des Antlitzes! Rechts wallen die schoͤnen Haare in ihrer Fuͤlle herunter. Schultern und Arme sind bis zum Busen unbedeckt, aber wie sittsam! Das dunkelblaue Gewand geht uͤber den Kopf, daß eben ein schmaler Streif davon sichtbar wird, und ist so von hinten herum, unter den Armen hin, leicht bis zu den Fuͤßen zusammengeschlagen. Ein bescheidner Umriß den Ruͤcken hinab zeichnet sich in den dunklen Hintergrund, die weißen Fuͤße erhellen die gruͤne Finsterniß ein wenig. Wie sanft der Boden sie zu tragen scheint! Sie kann nicht anders liegen, es ist nichts zurecht gemachtes an der ganzen Gestalt, nicht der leiseste Anspruch.”
Reinhold. Kennen Sie Mengs Beschreibung dieser letzten Magdalena?
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/101>, abgerufen am 16.02.2025. |