Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Überraschungen drängen sich. Aber nicht bloß die
Dimensionen sind erweitert, auch die Menschen sind
von größerem Schlage. Lothario, der Abbe und der
Oheim sind gewissermaßen jeder auf seine Weise, der
Genius des Buchs selbst; die andern sind nur seine
Geschöpfe. Darum treten sie auch wie der alte Mei-
ster neben seinem Gemählde bescheiden in den Hinter-
grund zurück, obgleich sie aus diesem Gesichtspunkt
eigentlich die Hauptpersonen sind. Der Oheim hat
einen großen Sinn; der Abbe hat einen großen Ver-
stand, und schwebt über dem Ganzen wie der Geist
Gottes. Dafür daß er gern das Schicksal spielt,
muß er auch im Buch die Rolle des Schicksals
übernehmen. Lothario ist ein großer Mensch: der
Oheim hat noch etwas Schwerfälliges, Breites, der
Abbe etwas Magres, aber Lothario ist vollendet, seine
Erscheinung ist einfach, sein Geist ist immer im Fort-
schreiten, und er hat keinen Fehler als den Erbfeh-
ler aller Größe, die Fähigkeit auch zerstören zu kön-
nen. Er ist die himmelanstrebende Kuppel, jene sind
die gewaltigen Pilaster, auf denen sie ruht. Diese
architektonischen Naturen umfassen, tragen und erhal-
ten das Ganze. Die andern, welche nach dem Maß
von Ausführlichkeit der Darstellung die wichtigsten
scheinen können, sind nur die kleinen Bilder und Ver-
zierungen im Tempel. Sie interessiren den Geist un-
endlich, und es läßt sich auch gut darüber sprechen,
ob man sie achten oder lieben soll und kann, aber
für das Gemüth selbst bleiben es Marionetten, alle-
gorisches Spielwerk. Nicht so Mignon, Sperata und

Athenaeum. Ersten Bds. 2. St. M

Überraschungen draͤngen sich. Aber nicht bloß die
Dimensionen sind erweitert, auch die Menschen sind
von groͤßerem Schlage. Lothario, der Abbé und der
Oheim sind gewissermaßen jeder auf seine Weise, der
Genius des Buchs selbst; die andern sind nur seine
Geschoͤpfe. Darum treten sie auch wie der alte Mei-
ster neben seinem Gemaͤhlde bescheiden in den Hinter-
grund zuruͤck, obgleich sie aus diesem Gesichtspunkt
eigentlich die Hauptpersonen sind. Der Oheim hat
einen großen Sinn; der Abbé hat einen großen Ver-
stand, und schwebt uͤber dem Ganzen wie der Geist
Gottes. Dafuͤr daß er gern das Schicksal spielt,
muß er auch im Buch die Rolle des Schicksals
uͤbernehmen. Lothario ist ein großer Mensch: der
Oheim hat noch etwas Schwerfaͤlliges, Breites, der
Abbé etwas Magres, aber Lothario ist vollendet, seine
Erscheinung ist einfach, sein Geist ist immer im Fort-
schreiten, und er hat keinen Fehler als den Erbfeh-
ler aller Groͤße, die Faͤhigkeit auch zerstoͤren zu koͤn-
nen. Er ist die himmelanstrebende Kuppel, jene sind
die gewaltigen Pilaster, auf denen sie ruht. Diese
architektonischen Naturen umfassen, tragen und erhal-
ten das Ganze. Die andern, welche nach dem Maß
von Ausfuͤhrlichkeit der Darstellung die wichtigsten
scheinen koͤnnen, sind nur die kleinen Bilder und Ver-
zierungen im Tempel. Sie interessiren den Geist un-
endlich, und es laͤßt sich auch gut daruͤber sprechen,
ob man sie achten oder lieben soll und kann, aber
fuͤr das Gemuͤth selbst bleiben es Marionetten, alle-
gorisches Spielwerk. Nicht so Mignon, Sperata und

Athenaeum. Ersten Bds. 2. St. M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0366" n="177"/>
Überraschungen dra&#x0364;ngen sich. Aber nicht bloß die<lb/>
Dimensionen sind erweitert, auch die Menschen sind<lb/>
von gro&#x0364;ßerem Schlage. Lothario, der Abbé und der<lb/>
Oheim sind gewissermaßen jeder auf seine Weise, der<lb/>
Genius des Buchs selbst; die andern sind nur seine<lb/>
Gescho&#x0364;pfe. Darum treten sie auch wie der alte Mei-<lb/>
ster neben seinem Gema&#x0364;hlde bescheiden in den Hinter-<lb/>
grund zuru&#x0364;ck, obgleich sie aus diesem Gesichtspunkt<lb/>
eigentlich die Hauptpersonen sind. Der Oheim hat<lb/>
einen großen Sinn; der Abbé hat einen großen Ver-<lb/>
stand, und schwebt u&#x0364;ber dem Ganzen wie der Geist<lb/>
Gottes. Dafu&#x0364;r daß er gern das Schicksal spielt,<lb/>
muß er auch im Buch die Rolle des Schicksals<lb/>
u&#x0364;bernehmen. Lothario ist ein großer Mensch: der<lb/>
Oheim hat noch etwas Schwerfa&#x0364;lliges, Breites, der<lb/>
Abbé etwas Magres, aber Lothario ist vollendet, seine<lb/>
Erscheinung ist einfach, sein Geist ist immer im Fort-<lb/>
schreiten, und er hat keinen Fehler als den Erbfeh-<lb/>
ler aller Gro&#x0364;ße, die Fa&#x0364;higkeit auch zersto&#x0364;ren zu ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Er ist die himmelanstrebende Kuppel, jene sind<lb/>
die gewaltigen Pilaster, auf denen sie ruht. Diese<lb/>
architektonischen Naturen umfassen, tragen und erhal-<lb/>
ten das Ganze. Die andern, welche nach dem Maß<lb/>
von Ausfu&#x0364;hrlichkeit der Darstellung die wichtigsten<lb/>
scheinen ko&#x0364;nnen, sind nur die kleinen Bilder und Ver-<lb/>
zierungen im Tempel. Sie interessiren den Geist un-<lb/>
endlich, und es la&#x0364;ßt sich auch gut daru&#x0364;ber sprechen,<lb/>
ob man sie achten oder lieben soll und kann, aber<lb/>
fu&#x0364;r das Gemu&#x0364;th selbst bleiben es Marionetten, alle-<lb/>
gorisches Spielwerk. Nicht so Mignon, Sperata und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Athenaeum. Ersten Bds. 2. St. M</fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0366] Überraschungen draͤngen sich. Aber nicht bloß die Dimensionen sind erweitert, auch die Menschen sind von groͤßerem Schlage. Lothario, der Abbé und der Oheim sind gewissermaßen jeder auf seine Weise, der Genius des Buchs selbst; die andern sind nur seine Geschoͤpfe. Darum treten sie auch wie der alte Mei- ster neben seinem Gemaͤhlde bescheiden in den Hinter- grund zuruͤck, obgleich sie aus diesem Gesichtspunkt eigentlich die Hauptpersonen sind. Der Oheim hat einen großen Sinn; der Abbé hat einen großen Ver- stand, und schwebt uͤber dem Ganzen wie der Geist Gottes. Dafuͤr daß er gern das Schicksal spielt, muß er auch im Buch die Rolle des Schicksals uͤbernehmen. Lothario ist ein großer Mensch: der Oheim hat noch etwas Schwerfaͤlliges, Breites, der Abbé etwas Magres, aber Lothario ist vollendet, seine Erscheinung ist einfach, sein Geist ist immer im Fort- schreiten, und er hat keinen Fehler als den Erbfeh- ler aller Groͤße, die Faͤhigkeit auch zerstoͤren zu koͤn- nen. Er ist die himmelanstrebende Kuppel, jene sind die gewaltigen Pilaster, auf denen sie ruht. Diese architektonischen Naturen umfassen, tragen und erhal- ten das Ganze. Die andern, welche nach dem Maß von Ausfuͤhrlichkeit der Darstellung die wichtigsten scheinen koͤnnen, sind nur die kleinen Bilder und Ver- zierungen im Tempel. Sie interessiren den Geist un- endlich, und es laͤßt sich auch gut daruͤber sprechen, ob man sie achten oder lieben soll und kann, aber fuͤr das Gemuͤth selbst bleiben es Marionetten, alle- gorisches Spielwerk. Nicht so Mignon, Sperata und Athenaeum. Ersten Bds. 2. St. M

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/366
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/366>, abgerufen am 22.11.2024.