Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Eigenschaft. Einer oder der andre von unsern Dichtern wäre ein geschlagner Mann, wenn es keine Grazien gäbe. Wenn jemand die Alten in Masse charakterisiren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens was sie meynen, würde es ihnen auffallen wenn man behauptete: die alte Poesie sey ein Jndividuum im strengsten und buchstäblichsten Sinne des Worts; markirter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phänomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen für Personen, ja sogar für Jndividuen gelten lassen müßen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisiren als Jndividuen? Jst, was sich auf einen gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multipliziren läßt, nicht eben so gut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividiren läßt? Sind nicht alle Systeme Jndividuen, wie alle Jndividuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Jst nicht alle reale Einheit historisch? Giebt es nicht Jndividuen, die ganze Systeme von Jndividuen in sich enthalten? Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der größten Hindernisse gegen die Annäherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Jst die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen Eigenschaft. Einer oder der andre von unsern Dichtern waͤre ein geschlagner Mann, wenn es keine Grazien gaͤbe. Wenn jemand die Alten in Masse charakterisiren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens was sie meynen, wuͤrde es ihnen auffallen wenn man behauptete: die alte Poesie sey ein Jndividuum im strengsten und buchstaͤblichsten Sinne des Worts; markirter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phaͤnomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhaͤltnissen fuͤr Personen, ja sogar fuͤr Jndividuen gelten lassen muͤßen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisiren als Jndividuen? Jst, was sich auf einen gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multipliziren laͤßt, nicht eben so gut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividiren laͤßt? Sind nicht alle Systeme Jndividuen, wie alle Jndividuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Jst nicht alle reale Einheit historisch? Giebt es nicht Jndividuen, die ganze Systeme von Jndividuen in sich enthalten? Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der groͤßten Hindernisse gegen die Annaͤherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Jst die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0255" n="66"/> Eigenschaft. Einer oder der andre von unsern Dichtern waͤre ein geschlagner Mann, wenn es keine Grazien gaͤbe.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Wenn jemand die Alten in Masse charakterisiren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens was sie meynen, wuͤrde es ihnen auffallen wenn man behauptete: die alte Poesie sey ein Jndividuum im strengsten und buchstaͤblichsten Sinne des Worts; markirter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phaͤnomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhaͤltnissen fuͤr Personen, ja sogar fuͤr Jndividuen gelten lassen muͤßen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisiren als Jndividuen? Jst, was sich auf einen gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multipliziren laͤßt, nicht eben so gut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividiren laͤßt? Sind nicht alle Systeme Jndividuen, wie alle Jndividuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Jst nicht alle reale Einheit historisch? Giebt es nicht Jndividuen, die ganze Systeme von Jndividuen in sich enthalten?</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der groͤßten Hindernisse gegen die Annaͤherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Jst die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0255]
Eigenschaft. Einer oder der andre von unsern Dichtern waͤre ein geschlagner Mann, wenn es keine Grazien gaͤbe.
Wenn jemand die Alten in Masse charakterisiren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens was sie meynen, wuͤrde es ihnen auffallen wenn man behauptete: die alte Poesie sey ein Jndividuum im strengsten und buchstaͤblichsten Sinne des Worts; markirter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phaͤnomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhaͤltnissen fuͤr Personen, ja sogar fuͤr Jndividuen gelten lassen muͤßen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisiren als Jndividuen? Jst, was sich auf einen gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multipliziren laͤßt, nicht eben so gut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividiren laͤßt? Sind nicht alle Systeme Jndividuen, wie alle Jndividuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Jst nicht alle reale Einheit historisch? Giebt es nicht Jndividuen, die ganze Systeme von Jndividuen in sich enthalten?
Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der groͤßten Hindernisse gegen die Annaͤherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Jst die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/255>, abgerufen am 29.06.2024. |