Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Leibnizens gesammte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant der Kopernikus der Philosophie hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibnitz: aber seine Situazion und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfällen wie beliebten Melodieen: die Kantianer haben sie todt gesungen; daher kann man ihm leicht Unrecht thun, und ihn für weniger witzig halten, als er ist. Freylich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfälle zu warten, und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische Kraft, und mit genialischer Kunst aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesirenden Genie's darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft giebt? Und wie kann es diese geben, so lange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabiren wie Quintaner, und uns einbilden, wir wären am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie dekliniren und konjugiren können, und noch nichts vom Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruiren können?



A. Sie behaupten immer Sie wären ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? -- B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst angefangnes

Leibnizens gesammte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant der Kopernikus der Philosophie hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibnitz: aber seine Situazion und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfaͤllen wie beliebten Melodieen: die Kantianer haben sie todt gesungen; daher kann man ihm leicht Unrecht thun, und ihn fuͤr weniger witzig halten, als er ist. Freylich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfaͤlle zu warten, und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische Kraft, und mit genialischer Kunst aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesirenden Genie's darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft giebt? Und wie kann es diese geben, so lange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabiren wie Quintaner, und uns einbilden, wir waͤren am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie dekliniren und konjugiren koͤnnen, und noch nichts vom Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruiren koͤnnen?



A. Sie behaupten immer Sie waͤren ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? — B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst angefangnes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0248" n="59"/>
Leibnizens gesammte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant der Kopernikus der Philosophie hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibnitz: aber seine Situazion und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfa&#x0364;llen wie beliebten Melodieen: die Kantianer haben sie todt gesungen; daher kann man ihm leicht Unrecht thun, und ihn fu&#x0364;r weniger witzig halten, als er ist. Freylich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfa&#x0364;lle zu warten, und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische Kraft, und mit genialischer Kunst aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesirenden Genie's darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft giebt? Und wie kann es diese geben, so lange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabiren wie Quintaner, und uns einbilden, wir wa&#x0364;ren am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie dekliniren und konjugiren ko&#x0364;nnen, und noch nichts vom Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruiren ko&#x0364;nnen?</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>A. Sie behaupten immer Sie wa&#x0364;ren ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? &#x2014; B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst angefangnes<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0248] Leibnizens gesammte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant der Kopernikus der Philosophie hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibnitz: aber seine Situazion und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfaͤllen wie beliebten Melodieen: die Kantianer haben sie todt gesungen; daher kann man ihm leicht Unrecht thun, und ihn fuͤr weniger witzig halten, als er ist. Freylich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfaͤlle zu warten, und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische Kraft, und mit genialischer Kunst aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesirenden Genie's darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft giebt? Und wie kann es diese geben, so lange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabiren wie Quintaner, und uns einbilden, wir waͤren am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie dekliniren und konjugiren koͤnnen, und noch nichts vom Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruiren koͤnnen? A. Sie behaupten immer Sie waͤren ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? — B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst angefangnes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/248
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/248>, abgerufen am 23.11.2024.