Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

zu hoch; daraus entsteht ein Misverhältniß, woran sich die Unächtheit der Fikzion erkennen läßt. Es kann ein Gegenstand der reifsten Poesie seyn, auch eine sehr gewöhnliche Natur in ihrer vollen Wahrheit und Beschränkung darzustellen; aber das erfodert eine Enthaltsamkeit, die Lafontaine freylich nicht kennt, da sie eben mit zur reifen Poesie gehört. Er kann über allem Schildern nicht zum Darstellen kommen. Wie kindlich sind einige von den ersten karakteristischen Familienszenen angelegt, wo so viel von den Alten und vom Brutus die Rede ist. Welche überzeugende Argumenta ad hominem! Auch kommen gleich drey, vier Exempel von der nämlichen Sache hinter einander, und dazwischen die ausdrücklichen Berichte, wie sich ein jeder benahm. Wenn das rechte fehlt, so mögt ihr noch so viel darüber singen und sagen; glauben mag man, aber sehen wird man nicht, und der Überfluß macht es niemals aus. So muß man auch aufs Wort glauben, daß Anna ein außerordentliches Wesen ist. Die geheimnißvolle Ankündigung löst sich nach und nach in trüben Dunst auf. Alsdann tritt Adelaide als das "seltne Geschöpf" hervor, die sich von "ihnen allen durch ihren Karakter unterscheidet. Jhr Herz war ein lebender Hauch der Liebe, und zugleich stark wie ein Diamant, ihr offnes Auge war heiter, aber in diesen Augen spielte nicht der leichte Sinn der Jugend, es leuchtete darin ein Stral des ewigen Lebens, es schien über das Elend hinweg in eine Welt voll Ruhe zu sehn, und die Thräne, die an den langen Augenwimpern

zu hoch; daraus entsteht ein Misverhaͤltniß, woran sich die Unaͤchtheit der Fikzion erkennen laͤßt. Es kann ein Gegenstand der reifsten Poesie seyn, auch eine sehr gewoͤhnliche Natur in ihrer vollen Wahrheit und Beschraͤnkung darzustellen; aber das erfodert eine Enthaltsamkeit, die Lafontaine freylich nicht kennt, da sie eben mit zur reifen Poesie gehoͤrt. Er kann uͤber allem Schildern nicht zum Darstellen kommen. Wie kindlich sind einige von den ersten karakteristischen Familienszenen angelegt, wo so viel von den Alten und vom Brutus die Rede ist. Welche uͤberzeugende Argumenta ad hominem! Auch kommen gleich drey, vier Exempel von der naͤmlichen Sache hinter einander, und dazwischen die ausdruͤcklichen Berichte, wie sich ein jeder benahm. Wenn das rechte fehlt, so moͤgt ihr noch so viel daruͤber singen und sagen; glauben mag man, aber sehen wird man nicht, und der Überfluß macht es niemals aus. So muß man auch aufs Wort glauben, daß Anna ein außerordentliches Wesen ist. Die geheimnißvolle Ankuͤndigung loͤst sich nach und nach in truͤben Dunst auf. Alsdann tritt Adelaide als das „seltne Geschoͤpf“ hervor, die sich von „ihnen allen durch ihren Karakter unterscheidet. Jhr Herz war ein lebender Hauch der Liebe, und zugleich stark wie ein Diamant, ihr offnes Auge war heiter, aber in diesen Augen spielte nicht der leichte Sinn der Jugend, es leuchtete darin ein Stral des ewigen Lebens, es schien uͤber das Elend hinweg in eine Welt voll Ruhe zu sehn, und die Thraͤne, die an den langen Augenwimpern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0175" n="164"/>
zu hoch; daraus entsteht ein Misverha&#x0364;ltniß, woran sich die Una&#x0364;chtheit der Fikzion erkennen la&#x0364;ßt. Es kann ein Gegenstand der reifsten Poesie seyn, auch eine sehr gewo&#x0364;hnliche Natur in ihrer vollen Wahrheit und Beschra&#x0364;nkung darzustellen; aber das erfodert eine Enthaltsamkeit, die Lafontaine freylich nicht kennt, da sie eben mit zur reifen Poesie geho&#x0364;rt. Er kann u&#x0364;ber allem Schildern nicht zum Darstellen kommen. Wie kindlich sind einige von den ersten karakteristischen Familienszenen angelegt, wo so viel von den Alten und vom Brutus die Rede ist. Welche u&#x0364;berzeugende <foreign xml:lang="la">Argumenta ad hominem</foreign>! Auch kommen gleich drey, vier Exempel von der na&#x0364;mlichen Sache hinter einander, und dazwischen die ausdru&#x0364;cklichen Berichte, wie sich ein jeder benahm. Wenn das rechte fehlt, so mo&#x0364;gt ihr noch so viel daru&#x0364;ber singen und sagen; glauben mag man, aber sehen wird man nicht, und der Überfluß macht es niemals aus. So muß man auch aufs Wort glauben, daß Anna ein außerordentliches Wesen ist. Die geheimnißvolle Anku&#x0364;ndigung lo&#x0364;st sich nach und nach in tru&#x0364;ben Dunst auf. Alsdann tritt Adelaide als das &#x201E;seltne Gescho&#x0364;pf&#x201C; hervor, die sich von &#x201E;ihnen allen durch ihren Karakter unterscheidet. Jhr Herz war ein lebender Hauch der Liebe, und zugleich stark wie ein Diamant, ihr offnes Auge war heiter, aber in diesen Augen spielte nicht der leichte Sinn der Jugend, es leuchtete darin ein Stral des ewigen Lebens, es schien u&#x0364;ber das Elend hinweg in eine Welt voll Ruhe zu sehn, und die Thra&#x0364;ne, die an den langen Augenwimpern<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0175] zu hoch; daraus entsteht ein Misverhaͤltniß, woran sich die Unaͤchtheit der Fikzion erkennen laͤßt. Es kann ein Gegenstand der reifsten Poesie seyn, auch eine sehr gewoͤhnliche Natur in ihrer vollen Wahrheit und Beschraͤnkung darzustellen; aber das erfodert eine Enthaltsamkeit, die Lafontaine freylich nicht kennt, da sie eben mit zur reifen Poesie gehoͤrt. Er kann uͤber allem Schildern nicht zum Darstellen kommen. Wie kindlich sind einige von den ersten karakteristischen Familienszenen angelegt, wo so viel von den Alten und vom Brutus die Rede ist. Welche uͤberzeugende Argumenta ad hominem! Auch kommen gleich drey, vier Exempel von der naͤmlichen Sache hinter einander, und dazwischen die ausdruͤcklichen Berichte, wie sich ein jeder benahm. Wenn das rechte fehlt, so moͤgt ihr noch so viel daruͤber singen und sagen; glauben mag man, aber sehen wird man nicht, und der Überfluß macht es niemals aus. So muß man auch aufs Wort glauben, daß Anna ein außerordentliches Wesen ist. Die geheimnißvolle Ankuͤndigung loͤst sich nach und nach in truͤben Dunst auf. Alsdann tritt Adelaide als das „seltne Geschoͤpf“ hervor, die sich von „ihnen allen durch ihren Karakter unterscheidet. Jhr Herz war ein lebender Hauch der Liebe, und zugleich stark wie ein Diamant, ihr offnes Auge war heiter, aber in diesen Augen spielte nicht der leichte Sinn der Jugend, es leuchtete darin ein Stral des ewigen Lebens, es schien uͤber das Elend hinweg in eine Welt voll Ruhe zu sehn, und die Thraͤne, die an den langen Augenwimpern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/175
Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/175>, abgerufen am 25.11.2024.