Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Lissow war ein junger Mann, der Jacobinen nie gesagt hatte, daß sie seine Frau werden könnte. Sie wird uns als das reinste, erhabenste Gemüth vorgestellt. Was Vertraulichkeit bedeutet, konnte sie indeß bey ihrer Erziehung wohl nicht umhin zu wissen, und Zurückhaltung von einer jeden, die nicht das erste überraschende Geständniß der Liebe oder die Folge desselben war, mußte die Bewegungen eines so gebildeten jungen Mädchens leiten. Heilige unwillkührliche Scheu sich hinzugeben, ist Unschuld, nicht Lafontainens unendliche Arglosigkeit im Hingeben, die seine Frauen, er mag sie nun so edel schildern als er will, mehr oder weniger zu Gurli´s macht. Jacobine treibt sie so weit, daß sie auch als Lissows Gattin dem jungen, schönen und reichen Maltheserritter, der ihr Hausfreund war, "die schöne Wange hinhielt, wenn er kam und wenn er ging." Wie unverständig müßte ein sittsames Weib seyn, um sich so zu betragen? Welche Vorwürfe hätte sie sich zu machen, wenn ähnliches Unheil wie bey dieser Gelegenheit daraus entsteht. Ein andrer moralischer Hebel des Lafontaine ist die Wohltätigkeit und überhaupt alle die Rührungen, die aus der rohen Gutherzigkeit entspringen. Nicht, als ob er versäumte, in Worten die gehörige Dosis Weisheit beyzumischen, wie er zum Beyspiel dem Flaming einen alten Grumbach zugestellt, der mit seiner Freygebigkeit haushält: aber er mag noch so sehr dazu und davon thun, er bringt es doch zu keinem edleren Metall in der Jugend, als zu diesem materiellen Lissow war ein junger Mann, der Jacobinen nie gesagt hatte, daß sie seine Frau werden koͤnnte. Sie wird uns als das reinste, erhabenste Gemuͤth vorgestellt. Was Vertraulichkeit bedeutet, konnte sie indeß bey ihrer Erziehung wohl nicht umhin zu wissen, und Zuruͤckhaltung von einer jeden, die nicht das erste uͤberraschende Gestaͤndniß der Liebe oder die Folge desselben war, mußte die Bewegungen eines so gebildeten jungen Maͤdchens leiten. Heilige unwillkuͤhrliche Scheu sich hinzugeben, ist Unschuld, nicht Lafontainens unendliche Arglosigkeit im Hingeben, die seine Frauen, er mag sie nun so edel schildern als er will, mehr oder weniger zu Gurli´s macht. Jacobine treibt sie so weit, daß sie auch als Lissows Gattin dem jungen, schoͤnen und reichen Maltheserritter, der ihr Hausfreund war, „die schoͤne Wange hinhielt, wenn er kam und wenn er ging.“ Wie unverstaͤndig muͤßte ein sittsames Weib seyn, um sich so zu betragen? Welche Vorwuͤrfe haͤtte sie sich zu machen, wenn aͤhnliches Unheil wie bey dieser Gelegenheit daraus entsteht. Ein andrer moralischer Hebel des Lafontaine ist die Wohltaͤtigkeit und uͤberhaupt alle die Ruͤhrungen, die aus der rohen Gutherzigkeit entspringen. Nicht, als ob er versaͤumte, in Worten die gehoͤrige Dosis Weisheit beyzumischen, wie er zum Beyspiel dem Flaming einen alten Grumbach zugestellt, der mit seiner Freygebigkeit haushaͤlt: aber er mag noch so sehr dazu und davon thun, er bringt es doch zu keinem edleren Metall in der Jugend, als zu diesem materiellen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0169" n="158"/> Lissow war ein junger Mann, der Jacobinen nie gesagt hatte, daß sie seine Frau werden koͤnnte. Sie wird uns als das reinste, erhabenste Gemuͤth vorgestellt. Was Vertraulichkeit bedeutet, konnte sie indeß bey ihrer Erziehung wohl nicht umhin zu wissen, und Zuruͤckhaltung von einer jeden, die nicht das erste uͤberraschende Gestaͤndniß der Liebe oder die Folge desselben war, mußte die Bewegungen eines so gebildeten jungen Maͤdchens leiten. Heilige unwillkuͤhrliche Scheu sich hinzugeben, ist Unschuld, nicht Lafontainens unendliche Arglosigkeit im Hingeben, die seine Frauen, er mag sie nun so edel schildern als er will, mehr oder weniger zu Gurli´s macht. Jacobine treibt sie so weit, daß sie auch als Lissows Gattin dem jungen, schoͤnen und reichen Maltheserritter, der ihr Hausfreund war, „die schoͤne Wange hinhielt, wenn er kam und wenn er ging.“ Wie unverstaͤndig muͤßte ein sittsames Weib seyn, um sich so zu betragen? Welche Vorwuͤrfe haͤtte sie sich zu machen, wenn aͤhnliches Unheil wie bey dieser Gelegenheit daraus entsteht.</p><lb/> <p>Ein andrer moralischer Hebel des Lafontaine ist die Wohltaͤtigkeit und uͤberhaupt alle die Ruͤhrungen, die aus der rohen Gutherzigkeit entspringen. Nicht, als ob er versaͤumte, in Worten die gehoͤrige Dosis Weisheit beyzumischen, wie er zum Beyspiel dem Flaming einen alten Grumbach zugestellt, der mit seiner Freygebigkeit haushaͤlt: aber er mag noch so sehr dazu und davon thun, er bringt es doch zu keinem edleren Metall in der Jugend, als zu diesem materiellen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [158/0169]
Lissow war ein junger Mann, der Jacobinen nie gesagt hatte, daß sie seine Frau werden koͤnnte. Sie wird uns als das reinste, erhabenste Gemuͤth vorgestellt. Was Vertraulichkeit bedeutet, konnte sie indeß bey ihrer Erziehung wohl nicht umhin zu wissen, und Zuruͤckhaltung von einer jeden, die nicht das erste uͤberraschende Gestaͤndniß der Liebe oder die Folge desselben war, mußte die Bewegungen eines so gebildeten jungen Maͤdchens leiten. Heilige unwillkuͤhrliche Scheu sich hinzugeben, ist Unschuld, nicht Lafontainens unendliche Arglosigkeit im Hingeben, die seine Frauen, er mag sie nun so edel schildern als er will, mehr oder weniger zu Gurli´s macht. Jacobine treibt sie so weit, daß sie auch als Lissows Gattin dem jungen, schoͤnen und reichen Maltheserritter, der ihr Hausfreund war, „die schoͤne Wange hinhielt, wenn er kam und wenn er ging.“ Wie unverstaͤndig muͤßte ein sittsames Weib seyn, um sich so zu betragen? Welche Vorwuͤrfe haͤtte sie sich zu machen, wenn aͤhnliches Unheil wie bey dieser Gelegenheit daraus entsteht.
Ein andrer moralischer Hebel des Lafontaine ist die Wohltaͤtigkeit und uͤberhaupt alle die Ruͤhrungen, die aus der rohen Gutherzigkeit entspringen. Nicht, als ob er versaͤumte, in Worten die gehoͤrige Dosis Weisheit beyzumischen, wie er zum Beyspiel dem Flaming einen alten Grumbach zugestellt, der mit seiner Freygebigkeit haushaͤlt: aber er mag noch so sehr dazu und davon thun, er bringt es doch zu keinem edleren Metall in der Jugend, als zu diesem materiellen
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/169>, abgerufen am 16.02.2025. |