Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, Wie ganz anders verhält sich der philosophische schauet.
Dem Rechtsgelehrten entleidet ſeine Rechtswiſſenſchaft, Wie ganz anders verhaͤlt ſich der philoſophiſche ſchauet.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0010" n="8"/> Dem Rechtsgelehrten entleidet ſeine Rechtswiſſenſchaft,<lb/> ſobald der Schimmer beſſerer Kultur ihre Bloͤßen ihm<lb/> beleuchtet, anſtatt daß er jetzt ſtreben ſollte, ein neuer<lb/> Schoͤpfer derſelben zu ſeyn, und den entdeckten Man-<lb/> gel aus innerer Fuͤlle zu verbeſſern. Der Arzt entzwey-<lb/> het ſich mit ſeinem Beruf, ſobald ihm wichtige Fehl-<lb/> ſchlaͤge die Unzuverlaͤßigkeit ſeiner Syſteme zeigen; der<lb/> Theolog verliert die Achtung fuͤr den Seinigen, ſo-<lb/> bald ſein Glaube an die Unfehlbarkeit ſeines Lehrgebaͤu-<lb/> des wankt.</p><lb/> <p>Wie ganz anders verhaͤlt ſich der philoſophiſche<lb/> Kopf! — Eben ſo ſorgfaͤltig, als der Brodgelehrte<lb/> ſeine Wiſſenſchaft von allen uͤbrigen abſondert, be-<lb/> ſtrebt ſich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren<lb/> Bund mit den uͤbrigen wieder herzuſtellen — herzu-<lb/> ſtellen, ſage ich, denn nur der abſtrahirende Verſtand<lb/> hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wiſſenſchaften<lb/> von einander geſchieden. Wo der Brodgelehrte trennt,<lb/> vereinigt der philoſophiſche Geiſt. Fruͤhe hat er ſich<lb/> uͤberzeugt, daß im Gebiete des Verſtandes, wie in der<lb/> Sinnenwelt, alles in einander greife, und ſein reger<lb/> Trieb nach Uebereinſtimmung kann ſich mit Bruchſtuͤ-<lb/> cken nicht begnuͤgen. Alle ſeine Beſtrebungen ſind auf<lb/> Vollendung ſeines Wiſſens gerichtet; ſeine edle Unge-<lb/> duld kann nicht ruhen, bis alle ſeine Begriffe zu einem<lb/> harmoniſchen Ganzen ſich geordnet haben, bis er im<lb/> Mittelpunkt ſeiner Kunſt, ſeiner Wiſſenſchaft ſteht, und<lb/> von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick uͤber-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſchauet.</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0010]
Dem Rechtsgelehrten entleidet ſeine Rechtswiſſenſchaft,
ſobald der Schimmer beſſerer Kultur ihre Bloͤßen ihm
beleuchtet, anſtatt daß er jetzt ſtreben ſollte, ein neuer
Schoͤpfer derſelben zu ſeyn, und den entdeckten Man-
gel aus innerer Fuͤlle zu verbeſſern. Der Arzt entzwey-
het ſich mit ſeinem Beruf, ſobald ihm wichtige Fehl-
ſchlaͤge die Unzuverlaͤßigkeit ſeiner Syſteme zeigen; der
Theolog verliert die Achtung fuͤr den Seinigen, ſo-
bald ſein Glaube an die Unfehlbarkeit ſeines Lehrgebaͤu-
des wankt.
Wie ganz anders verhaͤlt ſich der philoſophiſche
Kopf! — Eben ſo ſorgfaͤltig, als der Brodgelehrte
ſeine Wiſſenſchaft von allen uͤbrigen abſondert, be-
ſtrebt ſich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren
Bund mit den uͤbrigen wieder herzuſtellen — herzu-
ſtellen, ſage ich, denn nur der abſtrahirende Verſtand
hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wiſſenſchaften
von einander geſchieden. Wo der Brodgelehrte trennt,
vereinigt der philoſophiſche Geiſt. Fruͤhe hat er ſich
uͤberzeugt, daß im Gebiete des Verſtandes, wie in der
Sinnenwelt, alles in einander greife, und ſein reger
Trieb nach Uebereinſtimmung kann ſich mit Bruchſtuͤ-
cken nicht begnuͤgen. Alle ſeine Beſtrebungen ſind auf
Vollendung ſeines Wiſſens gerichtet; ſeine edle Unge-
duld kann nicht ruhen, bis alle ſeine Begriffe zu einem
harmoniſchen Ganzen ſich geordnet haben, bis er im
Mittelpunkt ſeiner Kunſt, ſeiner Wiſſenſchaft ſteht, und
von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick uͤber-
ſchauet.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |