Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Tübingen, 1804. Melchthal Groß ist in Unterwalden meine Freundschaft, Und jeder wagt mit Freuden Leib und Blut, Wenn er am andern einen Rücken hat Und Schirm -- O fromme Väter dieses Landes! Ich stehe nur ein Jüngling zwischen euch, Den Vielerfahrnen -- meine Stimme muß Bescheiden schweigen in der Landsgemeinde. Nicht weil ich jung bin und nicht viel erlebte, Verachtet meinen Rath und meine Rede, Nicht lüstern jugendliches Blut, mich treibt Des höchsteu Jammers schmerzliche Gewalt, Was auch den Stein des Felsen muß erbarmen. Ihr selbst seid Väter, Häupter eines Hauses, Und wünscht euch einen tugendhaften Sohn, Der eures Hauptes heilge Locken ehre, Und euch den Stern des Auges fromm bewache. O weil ihr selbst an eurem Leib und Gut Noch nichts erlitten, eure Augen sich Noch frisch und hell in ihren Kreisen regen, So sei euch darum unsre Noth nicht fremd. Melchthal Groß iſt in Unterwalden meine Freundſchaft, Und jeder wagt mit Freuden Leib und Blut, Wenn er am andern einen Ruͤcken hat Und Schirm — O fromme Vaͤter dieſes Landes! Ich ſtehe nur ein Juͤngling zwiſchen euch, Den Vielerfahrnen — meine Stimme muß Beſcheiden ſchweigen in der Landsgemeinde. Nicht weil ich jung bin und nicht viel erlebte, Verachtet meinen Rath und meine Rede, Nicht luͤſtern jugendliches Blut, mich treibt Des hoͤchſteu Jammers ſchmerzliche Gewalt, Was auch den Stein des Felſen muß erbarmen. Ihr ſelbſt ſeid Vaͤter, Haͤupter eines Hauſes, Und wuͤnſcht euch einen tugendhaften Sohn, Der eures Hauptes heilge Locken ehre, Und euch den Stern des Auges fromm bewache. O weil ihr ſelbſt an eurem Leib und Gut Noch nichts erlitten, eure Augen ſich Noch friſch und hell in ihren Kreiſen regen, So ſei euch darum unſre Noth nicht fremd. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0064" n="50"/> <sp who="#MEL"> <speaker> <hi rendition="#g">Melchthal</hi> </speaker><lb/> <p>Groß iſt in Unterwalden meine Freundſchaft,<lb/> Und jeder wagt mit Freuden Leib und Blut,<lb/> Wenn er am andern einen Ruͤcken hat<lb/> Und Schirm — O fromme Vaͤter dieſes Landes!<lb/> Ich ſtehe nur ein Juͤngling zwiſchen euch,<lb/> Den Vielerfahrnen — meine Stimme muß<lb/> Beſcheiden ſchweigen in der Landsgemeinde.<lb/> Nicht weil ich jung bin und nicht viel erlebte,<lb/> Verachtet meinen Rath und meine Rede,<lb/> Nicht luͤſtern jugendliches Blut, mich treibt<lb/> Des hoͤchſteu Jammers ſchmerzliche Gewalt,<lb/> Was auch den Stein des Felſen muß erbarmen.<lb/> Ihr ſelbſt ſeid Vaͤter, Haͤupter eines Hauſes,<lb/> Und wuͤnſcht euch einen tugendhaften Sohn,<lb/> Der eures Hauptes heilge Locken ehre,<lb/> Und euch den Stern des Auges fromm bewache.<lb/> O weil ihr ſelbſt an eurem Leib und Gut<lb/> Noch nichts erlitten, eure Augen ſich<lb/> Noch friſch und hell in ihren Kreiſen regen,<lb/> So ſei euch darum unſre Noth nicht fremd.<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0064]
Melchthal
Groß iſt in Unterwalden meine Freundſchaft,
Und jeder wagt mit Freuden Leib und Blut,
Wenn er am andern einen Ruͤcken hat
Und Schirm — O fromme Vaͤter dieſes Landes!
Ich ſtehe nur ein Juͤngling zwiſchen euch,
Den Vielerfahrnen — meine Stimme muß
Beſcheiden ſchweigen in der Landsgemeinde.
Nicht weil ich jung bin und nicht viel erlebte,
Verachtet meinen Rath und meine Rede,
Nicht luͤſtern jugendliches Blut, mich treibt
Des hoͤchſteu Jammers ſchmerzliche Gewalt,
Was auch den Stein des Felſen muß erbarmen.
Ihr ſelbſt ſeid Vaͤter, Haͤupter eines Hauſes,
Und wuͤnſcht euch einen tugendhaften Sohn,
Der eures Hauptes heilge Locken ehre,
Und euch den Stern des Auges fromm bewache.
O weil ihr ſelbſt an eurem Leib und Gut
Noch nichts erlitten, eure Augen ſich
Noch friſch und hell in ihren Kreiſen regen,
So ſei euch darum unſre Noth nicht fremd.
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Tübingen, 1804, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_tell_1804/64>, abgerufen am 25.07.2024. |