Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.VII. Ueber naive Da der Realist durch die Nothwendigkeit der Natur bey dieser Eintheilung ganz und gar nicht darauf abgesehen
ist, eine Wahl zwischen beyden, folglich eine Begünstigung des Einen mit Ausschließung des andern zu veranlassen. Ge- rade diese Ausschließung, welche sich in der Erfahrung findet, bekämpfe ich; und das Resultat der gegenwärtigen Betrachtungen wird der Beweiß seyn, daß nur durch die vollkommen gleiche Einschließung beyder dem Vernunft- begriffe der Menschheit kann Genüge geleistet werden. Ue- brigens nehme ich beyde in ihrem würdigsten Sinn und in der ganzen Fülle ihres Begriffs, der nur immer mit der Reinheit desselben, und mit Beybehaltung ihrer specifischen Unterschiede bestehen kann. Auch wird es sich zeigen, daß ein hoher Grad menschlicher Wahrheit sich mit beyden ver- trägt, und daß ihre Abweichungen von einander zwar im einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form aber nicht dem Gehalt nach eine Veränderung machen. VII. Ueber naive Da der Realiſt durch die Nothwendigkeit der Natur bey dieſer Eintheilung ganz und gar nicht darauf abgeſehen
iſt, eine Wahl zwiſchen beyden, folglich eine Beguͤnſtigung des Einen mit Ausſchließung des andern zu veranlaſſen. Ge- rade dieſe Ausſchließung, welche ſich in der Erfahrung findet, bekaͤmpfe ich; und das Reſultat der gegenwaͤrtigen Betrachtungen wird der Beweiß ſeyn, daß nur durch die vollkommen gleiche Einſchließung beyder dem Vernunft- begriffe der Menſchheit kann Genuͤge geleiſtet werden. Ue- brigens nehme ich beyde in ihrem wuͤrdigſten Sinn und in der ganzen Fuͤlle ihres Begriffs, der nur immer mit der Reinheit deſſelben, und mit Beybehaltung ihrer ſpecifiſchen Unterſchiede beſtehen kann. Auch wird es ſich zeigen, daß ein hoher Grad menſchlicher Wahrheit ſich mit beyden ver- traͤgt, und daß ihre Abweichungen von einander zwar im einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form aber nicht dem Gehalt nach eine Veraͤnderung machen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0041" n="106"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#aq">VII.</hi> <hi rendition="#g">Ueber naive</hi> </fw><lb/> <p>Da der Realiſt durch die Nothwendigkeit der Natur<lb/> ſich beſtimmen laͤßt, der Idealiſt durch die Nothwendig-<lb/> keit der Vernunft ſich beſtimmt, ſo muß zwiſchen beyden<lb/> daſſelbe Verhaͤltniß Statt finden, welches zwiſchen den<lb/> Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft<lb/> angetroffen wird. Die Natur, wiſſen wir, obgleich<lb/> eine unendliche Groͤße im Ganzen, zeigt ſich in jeder<lb/> einzelnen Wirkung abhaͤngig und beduͤrftig; nur in dem<lb/> All ihrer Erſcheinungen druͤckt ſie einen ſelbſtſtaͤndigen<lb/> großen Charakter aus. Alles individuelle in ihr iſt nur<lb/> deßwegen, weil etwas anderes iſt; nichts ſpringt aus<lb/> ſich ſelbſt, alles nur aus dem vorhergehenden Moment<lb/><note xml:id="seg2pn_2_2" prev="#seg2pn_2_1" place="foot" n="*">bey dieſer Eintheilung ganz und gar nicht darauf abgeſehen<lb/> iſt, eine Wahl zwiſchen beyden, folglich eine Beguͤnſtigung<lb/> des Einen mit Ausſchließung des andern zu veranlaſſen. Ge-<lb/> rade dieſe <hi rendition="#g">Ausſchließung</hi>, welche ſich in der Erfahrung<lb/> findet, bekaͤmpfe ich; und das Reſultat der gegenwaͤrtigen<lb/> Betrachtungen wird der Beweiß ſeyn, daß nur durch die<lb/> vollkommen gleiche <hi rendition="#g">Einſchließung</hi> beyder dem Vernunft-<lb/> begriffe der Menſchheit kann Genuͤge geleiſtet werden. Ue-<lb/> brigens nehme ich beyde in ihrem wuͤrdigſten Sinn und in<lb/> der ganzen <hi rendition="#g">Fuͤlle</hi> ihres Begriffs, der nur immer mit der<lb/> Reinheit deſſelben, und mit Beybehaltung ihrer ſpecifiſchen<lb/> Unterſchiede beſtehen kann. Auch wird es ſich zeigen, daß<lb/> ein hoher Grad menſchlicher Wahrheit ſich mit beyden ver-<lb/> traͤgt, und daß ihre Abweichungen von einander zwar im<lb/> einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form aber nicht<lb/> dem Gehalt nach eine Veraͤnderung machen.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [106/0041]
VII. Ueber naive
Da der Realiſt durch die Nothwendigkeit der Natur
ſich beſtimmen laͤßt, der Idealiſt durch die Nothwendig-
keit der Vernunft ſich beſtimmt, ſo muß zwiſchen beyden
daſſelbe Verhaͤltniß Statt finden, welches zwiſchen den
Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft
angetroffen wird. Die Natur, wiſſen wir, obgleich
eine unendliche Groͤße im Ganzen, zeigt ſich in jeder
einzelnen Wirkung abhaͤngig und beduͤrftig; nur in dem
All ihrer Erſcheinungen druͤckt ſie einen ſelbſtſtaͤndigen
großen Charakter aus. Alles individuelle in ihr iſt nur
deßwegen, weil etwas anderes iſt; nichts ſpringt aus
ſich ſelbſt, alles nur aus dem vorhergehenden Moment
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* bey dieſer Eintheilung ganz und gar nicht darauf abgeſehen
iſt, eine Wahl zwiſchen beyden, folglich eine Beguͤnſtigung
des Einen mit Ausſchließung des andern zu veranlaſſen. Ge-
rade dieſe Ausſchließung, welche ſich in der Erfahrung
findet, bekaͤmpfe ich; und das Reſultat der gegenwaͤrtigen
Betrachtungen wird der Beweiß ſeyn, daß nur durch die
vollkommen gleiche Einſchließung beyder dem Vernunft-
begriffe der Menſchheit kann Genuͤge geleiſtet werden. Ue-
brigens nehme ich beyde in ihrem wuͤrdigſten Sinn und in
der ganzen Fuͤlle ihres Begriffs, der nur immer mit der
Reinheit deſſelben, und mit Beybehaltung ihrer ſpecifiſchen
Unterſchiede beſtehen kann. Auch wird es ſich zeigen, daß
ein hoher Grad menſchlicher Wahrheit ſich mit beyden ver-
traͤgt, und daß ihre Abweichungen von einander zwar im
einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form aber nicht
dem Gehalt nach eine Veraͤnderung machen.
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/41>, abgerufen am 16.02.2025. |