Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künst- talischen Dichter. Dichter von dieſer naiven Gattung ſind in einem kuͤnſt- taliſchen Dichter. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0044" n="76"/> <p>Dichter von dieſer naiven Gattung ſind in einem kuͤnſt-<lb/> lichen Weltalter nicht ſo recht mehr an ihrer Stelle. Auch<lb/> ſind ſie in demſelben kaum mehr moͤglich, wenigſtens auf<lb/> keine andere Weiſe moͤglich als daß ſie in ihrem Zeitalter<lb/><hi rendition="#g">wild laufen,</hi> und durch ein guͤnſtiges Geſchick vor dem<lb/> verſtuͤmmelnden Einfluß deſſelben geborgen werden. Aus<lb/> der Societaͤt ſelbſt koͤnnen ſie nie und nimmer hervorgehen;<lb/> aber auſſerhalb derſelben erſcheinen ſie noch zuweilen,<lb/> doch mehr als Fremdlinge die man anſtaunt, und als<lb/> ungezogene Soͤhne der Natur, an denen man ſich aͤrgert.<lb/> So wohlthaͤtige Erſcheinungen ſie fuͤr den Kuͤnſtler ſind,<lb/> der ſie ſtudiert, und fuͤr den aͤchten Kenner, der ſie zu wuͤr-<lb/> digen verſteht, ſo wenig Gluͤck machen ſie im Ganzen und<lb/> bey ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrſchers ruht<lb/> auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Muſen<lb/> gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den<lb/> eigentlichen Zaunhuͤtern des Geſchmacks, werden ſie als<lb/><hi rendition="#g">Grenzſtoͤrer</hi> gehaßt, die man lieber unterdruͤcken moͤch-<lb/> te; denn ſelbſt Homer duͤrfte es bloß der Kraft eines mehr<lb/> als tauſendjaͤhrigen Zeugniſſes zu verdanken haben, daß<lb/> ihn dieſe Geſchmacksrichter gelten laſſen; auch wird es<lb/> ihnen ſauer genug, ihre Regeln gegen ſein Beyſpiel, und<lb/> ſein Anſehen gegen ihre Regeln zu behaupten.</p><lb/> <trailer>Im naͤchſten Stuͤck einige Worte uͤber die ſentimen-<lb/> taliſchen Dichter.</trailer> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [76/0044]
Dichter von dieſer naiven Gattung ſind in einem kuͤnſt-
lichen Weltalter nicht ſo recht mehr an ihrer Stelle. Auch
ſind ſie in demſelben kaum mehr moͤglich, wenigſtens auf
keine andere Weiſe moͤglich als daß ſie in ihrem Zeitalter
wild laufen, und durch ein guͤnſtiges Geſchick vor dem
verſtuͤmmelnden Einfluß deſſelben geborgen werden. Aus
der Societaͤt ſelbſt koͤnnen ſie nie und nimmer hervorgehen;
aber auſſerhalb derſelben erſcheinen ſie noch zuweilen,
doch mehr als Fremdlinge die man anſtaunt, und als
ungezogene Soͤhne der Natur, an denen man ſich aͤrgert.
So wohlthaͤtige Erſcheinungen ſie fuͤr den Kuͤnſtler ſind,
der ſie ſtudiert, und fuͤr den aͤchten Kenner, der ſie zu wuͤr-
digen verſteht, ſo wenig Gluͤck machen ſie im Ganzen und
bey ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrſchers ruht
auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Muſen
gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den
eigentlichen Zaunhuͤtern des Geſchmacks, werden ſie als
Grenzſtoͤrer gehaßt, die man lieber unterdruͤcken moͤch-
te; denn ſelbſt Homer duͤrfte es bloß der Kraft eines mehr
als tauſendjaͤhrigen Zeugniſſes zu verdanken haben, daß
ihn dieſe Geſchmacksrichter gelten laſſen; auch wird es
ihnen ſauer genug, ihre Regeln gegen ſein Beyſpiel, und
ſein Anſehen gegen ihre Regeln zu behaupten.
Im naͤchſten Stuͤck einige Worte uͤber die ſentimen-
taliſchen Dichter.
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