Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.man als den wahren Stifter dieser sentimentalischen Dich- Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, Der Dichter einer naiven und geistreichen Jugend- man als den wahren Stifter dieſer ſentimentaliſchen Dich- Die Dichter ſind uͤberall, ſchon ihrem Begriffe nach, Der Dichter einer naiven und geiſtreichen Jugend- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0039" n="71"/> man als den wahren Stifter dieſer ſentimentaliſchen Dich-<lb/> tungsart nennen, ſo wie er auch in derſelben ein noch<lb/> nicht uͤbertroffenes Muſter iſt. Auch im <hi rendition="#g">Properz,<lb/> Virgil</hi> u. a. findet man Spuren dieſer Empfindungs-<lb/> weiſe, weniger beym <hi rendition="#g">Ovid,</hi> dem es dazu an Fuͤlle des<lb/> Herzens fehlte, und der in ſeinem Exil zu Tomi die Gluͤck-<lb/> ſeligkeit ſchmerzlich vermißt, die Horaz in ſeinem Tibur<lb/> ſo gern entbehrte.</p><lb/> <p>Die Dichter ſind uͤberall, ſchon ihrem Begriffe nach,<lb/> die <hi rendition="#g">Bewahrer</hi> der Natur. Wo ſie dieſes nicht ganz<lb/> mehr ſeyn koͤnnen, und ſchon in ſich ſelbſt den zerſtoͤrenden<lb/> Einfluß willkuͤrlicher und kuͤnſtlicher Formen erfahren<lb/> oder doch mit denſelben zu kaͤmpfen gehabt haben, da<lb/> werden ſie als die <hi rendition="#g">Zeugen</hi> und als die <hi rendition="#g">Raͤcher</hi> der<lb/> Natur auftreten. Sie werden alſo entweder Natur<lb/><hi rendition="#g">ſeyn,</hi> oder ſie werden die verlorene <hi rendition="#g">ſuchen.</hi> Daraus<lb/> entſpringen zwey ganz verſchiedene Dichtungsweiſen,<lb/> durch welche das ganze Gebiet der Poeſie erſchoͤpft und<lb/> ausgemeſſen wird. Alle Dichter, die es wirklich ſind,<lb/> werden, je nachdem die Zeit beſchaffen iſt, in der ſie bluͤ-<lb/> hen, oder zufaͤllige Umſtaͤnde auf ihre allgemeine Bildung<lb/> und auf ihre voruͤbergehende <choice><sic>Gemuͤthsſtimmnng</sic><corr>Gemuͤthsſtimmung</corr></choice> Einfluß<lb/> haben, entweder zu den <hi rendition="#g">naiven</hi> oder zu den <hi rendition="#g">ſenti-<lb/> mentaliſchen</hi> gehoͤren.</p><lb/> <p>Der Dichter einer naiven und geiſtreichen Jugend-<lb/> welt, ſo wie derjenige, der in den Zeitaltern kuͤnſtlicher<lb/> Kultur ihm am naͤchſten kommt, iſt kalt, gleichguͤltig,<lb/> verſchloſſen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und ſproͤde,<lb/> wie die jungfraͤuliche <hi rendition="#g">Diana</hi> in ihren Waͤldern, ent-<lb/> flieht er dem Herzen, das ihn ſucht, dem Verlangen, das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0039]
man als den wahren Stifter dieſer ſentimentaliſchen Dich-
tungsart nennen, ſo wie er auch in derſelben ein noch
nicht uͤbertroffenes Muſter iſt. Auch im Properz,
Virgil u. a. findet man Spuren dieſer Empfindungs-
weiſe, weniger beym Ovid, dem es dazu an Fuͤlle des
Herzens fehlte, und der in ſeinem Exil zu Tomi die Gluͤck-
ſeligkeit ſchmerzlich vermißt, die Horaz in ſeinem Tibur
ſo gern entbehrte.
Die Dichter ſind uͤberall, ſchon ihrem Begriffe nach,
die Bewahrer der Natur. Wo ſie dieſes nicht ganz
mehr ſeyn koͤnnen, und ſchon in ſich ſelbſt den zerſtoͤrenden
Einfluß willkuͤrlicher und kuͤnſtlicher Formen erfahren
oder doch mit denſelben zu kaͤmpfen gehabt haben, da
werden ſie als die Zeugen und als die Raͤcher der
Natur auftreten. Sie werden alſo entweder Natur
ſeyn, oder ſie werden die verlorene ſuchen. Daraus
entſpringen zwey ganz verſchiedene Dichtungsweiſen,
durch welche das ganze Gebiet der Poeſie erſchoͤpft und
ausgemeſſen wird. Alle Dichter, die es wirklich ſind,
werden, je nachdem die Zeit beſchaffen iſt, in der ſie bluͤ-
hen, oder zufaͤllige Umſtaͤnde auf ihre allgemeine Bildung
und auf ihre voruͤbergehende Gemuͤthsſtimmung Einfluß
haben, entweder zu den naiven oder zu den ſenti-
mentaliſchen gehoͤren.
Der Dichter einer naiven und geiſtreichen Jugend-
welt, ſo wie derjenige, der in den Zeitaltern kuͤnſtlicher
Kultur ihm am naͤchſten kommt, iſt kalt, gleichguͤltig,
verſchloſſen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und ſproͤde,
wie die jungfraͤuliche Diana in ihren Waͤldern, ent-
flieht er dem Herzen, das ihn ſucht, dem Verlangen, das
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