Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.Bey diesen artete die Kultur nicht so weit aus, daß die In den Gesängen dieses Dichters tritt daher die leblose
Natur (im Gegensatz gegen den Menschen) noch weit mehr, als Gegenstand der Empfindung hervor. Indessen klagt auch schon Ossian über einen Verfall der Menschheit, und so klein auch bey seinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer Verderbnisse war, so war die Erfahrung davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefühlvollen mora- lischen Sänger zu dem Leblosen zurückzuscheuchen, und über seine Gesänge jenen elegischen Ton auszugießen, der sie für uns so rührend und anziehend macht. Bey dieſen artete die Kultur nicht ſo weit aus, daß die In den Geſaͤngen dieſes Dichters tritt daher die lebloſe
Natur (im Gegenſatz gegen den Menſchen) noch weit mehr, als Gegenſtand der Empfindung hervor. Indeſſen klagt auch ſchon Oſſian uͤber einen Verfall der Menſchheit, und ſo klein auch bey ſeinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer Verderbniſſe war, ſo war die Erfahrung davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefuͤhlvollen mora- liſchen Saͤnger zu dem Lebloſen zuruͤckzuſcheuchen, und uͤber ſeine Geſaͤnge jenen elegiſchen Ton auszugießen, der ſie fuͤr uns ſo ruͤhrend und anziehend macht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0037" n="69"/> Bey dieſen artete die Kultur nicht ſo weit aus, daß die<lb/> Natur daruͤber verlaſſen wurde. Der ganze Bau ihres<lb/> geſellſchaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf<lb/> einem Machwerk der Kunſt errichtet; ihre Goͤtterlehre<lb/> ſelbſt war die Eingebung eines naiven Gefuͤhls, die Ge-<lb/> burt einer froͤhlichen Einbildungskraft, nicht der gruͤbeln-<lb/> den Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Natio-<lb/> nen; da alſo der Grieche die Natur in der Menſchheit<lb/> nicht verlohren hatte, ſo konnte er, auſſerhalb dieſer,<lb/> auch nicht von ihr uͤberraſcht werden, und kein ſo drin-<lb/> gendes Beduͤrfniß nach Gegenſtaͤnden haben, in denen er<lb/> ſie wieder fand. Einig mit ſich ſelbſt, und gluͤcklich im<lb/> Gefuͤhl ſeiner Menſchheit mußte er bey dieſer als ſeinem<lb/> Maximum ſtille ſtehen, und alles andre derſelben zu naͤhern<lb/> bemuͤht ſeyn; wenn <hi rendition="#g">wir,</hi> uneinig mit uns ſelbſt, und<lb/> ungluͤcklich in unſern Erfahrungen von Menſchheit, kein<lb/> dringenderes Intereſſe haben, als aus derſelben heraus-<lb/> zufliehen, und eine ſo mislungene Form aus unſern Au-<lb/> gen zu ruͤcken.</p><lb/> <p> <note xml:id="seg2pn_5_2" prev="#seg2pn_5_1" place="foot" n="*">In den Geſaͤngen dieſes Dichters tritt daher die lebloſe<lb/> Natur (im Gegenſatz gegen den Menſchen) noch weit mehr,<lb/> als Gegenſtand der Empfindung hervor. Indeſſen klagt auch<lb/> ſchon Oſſian uͤber einen Verfall der Menſchheit, und ſo<lb/> klein auch bey ſeinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer<lb/> Verderbniſſe war, ſo war die Erfahrung davon doch gerade<lb/> lebhaft und eindringlich genug, um den gefuͤhlvollen mora-<lb/> liſchen Saͤnger zu dem Lebloſen zuruͤckzuſcheuchen, und uͤber<lb/> ſeine Geſaͤnge jenen elegiſchen Ton auszugießen, der ſie fuͤr<lb/> uns ſo ruͤhrend und anziehend macht.</note> </p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [69/0037]
Bey dieſen artete die Kultur nicht ſo weit aus, daß die
Natur daruͤber verlaſſen wurde. Der ganze Bau ihres
geſellſchaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf
einem Machwerk der Kunſt errichtet; ihre Goͤtterlehre
ſelbſt war die Eingebung eines naiven Gefuͤhls, die Ge-
burt einer froͤhlichen Einbildungskraft, nicht der gruͤbeln-
den Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Natio-
nen; da alſo der Grieche die Natur in der Menſchheit
nicht verlohren hatte, ſo konnte er, auſſerhalb dieſer,
auch nicht von ihr uͤberraſcht werden, und kein ſo drin-
gendes Beduͤrfniß nach Gegenſtaͤnden haben, in denen er
ſie wieder fand. Einig mit ſich ſelbſt, und gluͤcklich im
Gefuͤhl ſeiner Menſchheit mußte er bey dieſer als ſeinem
Maximum ſtille ſtehen, und alles andre derſelben zu naͤhern
bemuͤht ſeyn; wenn wir, uneinig mit uns ſelbſt, und
ungluͤcklich in unſern Erfahrungen von Menſchheit, kein
dringenderes Intereſſe haben, als aus derſelben heraus-
zufliehen, und eine ſo mislungene Form aus unſern Au-
gen zu ruͤcken.
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* In den Geſaͤngen dieſes Dichters tritt daher die lebloſe
Natur (im Gegenſatz gegen den Menſchen) noch weit mehr,
als Gegenſtand der Empfindung hervor. Indeſſen klagt auch
ſchon Oſſian uͤber einen Verfall der Menſchheit, und ſo
klein auch bey ſeinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer
Verderbniſſe war, ſo war die Erfahrung davon doch gerade
lebhaft und eindringlich genug, um den gefuͤhlvollen mora-
liſchen Saͤnger zu dem Lebloſen zuruͤckzuſcheuchen, und uͤber
ſeine Geſaͤnge jenen elegiſchen Ton auszugießen, der ſie fuͤr
uns ſo ruͤhrend und anziehend macht.
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