Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

Bild:
<< vorherige Seite

an ihr hangen, und selbst die leblose Welt mit der wärm-
sten Empfindung umfassen können? Daher kommt es,
weil die Natur bey uns aus der Menschheit verschwun-
den ist, und wir sie nur ausserhalb dieser, in der unbe-
seelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht
unsere größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegentheil
die Naturwidrigkeit unsrer Verhältnisse, Zustände
und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach
Wahrheit und Simplicität, der, wie die moralische An-
lage, aus welcher er fliesset, unbestechlich und unaus-
tilgbar in allen menschlichen Herzen liegt, in der phy-
sischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die in der
moralischen nicht zu hoffen ist. Deßwegen ist das Gefühl,
womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe
verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit
und der kindischen Unschuld beklagen. Unsre Kindheit
ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kul-
tivirten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wun-
der ist, wenn uns jede Fußstapfe der Natur ausser uns
auf unsre Kindheit zurückführt.

Sehr viel anders war es mit den alten Griechen.*

* Aber auch nur bey den Griechen; denn es gehörte gerade
eine solche rege Bewegung und eine solche reiche Fülle des
menschlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le-
ben auch in das Leblose zu legen, und das Bild der Mensch-
heit mit diesem Eifer zu verfolgen. Ossians Menschen-
welt z. B. war dürftig und einförmig; das Leblose um ihn
her hingegen war groß, kolossalisch, mächtig, drang sich also
auf, und behauptete selbst über den Menschen seine Rechte.

an ihr hangen, und ſelbſt die lebloſe Welt mit der waͤrm-
ſten Empfindung umfaſſen koͤnnen? Daher kommt es,
weil die Natur bey uns aus der Menſchheit verſchwun-
den iſt, und wir ſie nur auſſerhalb dieſer, in der unbe-
ſeelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht
unſere groͤßere Naturmaͤßigkeit, ganz im Gegentheil
die Naturwidrigkeit unſrer Verhaͤltniſſe, Zuſtaͤnde
und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach
Wahrheit und Simplicitaͤt, der, wie die moraliſche An-
lage, aus welcher er flieſſet, unbeſtechlich und unaus-
tilgbar in allen menſchlichen Herzen liegt, in der phy-
ſiſchen Welt eine Befriedigung zu verſchaffen, die in der
moraliſchen nicht zu hoffen iſt. Deßwegen iſt das Gefuͤhl,
womit wir an der Natur hangen, dem Gefuͤhle ſo nahe
verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit
und der kindiſchen Unſchuld beklagen. Unſre Kindheit
iſt die einzige unverſtuͤmmelte Natur, die wir in der kul-
tivirten Menſchheit noch antreffen, daher es kein Wun-
der iſt, wenn uns jede Fußſtapfe der Natur auſſer uns
auf unſre Kindheit zuruͤckfuͤhrt.

Sehr viel anders war es mit den alten Griechen.*

* Aber auch nur bey den Griechen; denn es gehoͤrte gerade
eine ſolche rege Bewegung und eine ſolche reiche Fuͤlle des
menſchlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le-
ben auch in das Lebloſe zu legen, und das Bild der Menſch-
heit mit dieſem Eifer zu verfolgen. Oſſians Menſchen-
welt z. B. war duͤrftig und einfoͤrmig; das Lebloſe um ihn
her hingegen war groß, koloſſaliſch, maͤchtig, drang ſich alſo
auf, und behauptete ſelbſt uͤber den Menſchen ſeine Rechte.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0036" n="68"/>
an ihr hangen, und &#x017F;elb&#x017F;t die leblo&#x017F;e Welt mit der wa&#x0364;rm-<lb/>
&#x017F;ten Empfindung umfa&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen? <hi rendition="#g">Daher</hi> kommt es,<lb/>
weil die Natur bey uns aus der Men&#x017F;chheit ver&#x017F;chwun-<lb/>
den i&#x017F;t, und wir &#x017F;ie nur au&#x017F;&#x017F;erhalb die&#x017F;er, in der unbe-<lb/>
&#x017F;eelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht<lb/>
un&#x017F;ere gro&#x0364;ßere <hi rendition="#g">Naturma&#x0364;ßigkeit,</hi> ganz im Gegentheil<lb/>
die <hi rendition="#g">Naturwidrigkeit</hi> un&#x017F;rer Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, Zu&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach<lb/>
Wahrheit und Simplicita&#x0364;t, der, wie die morali&#x017F;che An-<lb/>
lage, aus welcher er flie&#x017F;&#x017F;et, unbe&#x017F;techlich und unaus-<lb/>
tilgbar in allen men&#x017F;chlichen Herzen liegt, in der phy-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;chen Welt eine Befriedigung zu ver&#x017F;chaffen, die in der<lb/>
morali&#x017F;chen nicht zu hoffen i&#x017F;t. Deßwegen i&#x017F;t das Gefu&#x0364;hl,<lb/>
womit wir an der Natur hangen, dem Gefu&#x0364;hle &#x017F;o nahe<lb/>
verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit<lb/>
und der kindi&#x017F;chen Un&#x017F;chuld beklagen. Un&#x017F;re Kindheit<lb/>
i&#x017F;t die einzige unver&#x017F;tu&#x0364;mmelte Natur, die wir in der kul-<lb/>
tivirten Men&#x017F;chheit noch antreffen, daher es kein Wun-<lb/>
der i&#x017F;t, wenn uns jede Fuß&#x017F;tapfe der Natur au&#x017F;&#x017F;er uns<lb/>
auf un&#x017F;re Kindheit zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hrt.</p><lb/>
        <p>Sehr viel anders war es mit den alten Griechen.<note xml:id="seg2pn_5_1" next="#seg2pn_5_2" place="foot" n="*">Aber auch nur bey den Griechen; denn es geho&#x0364;rte gerade<lb/>
eine &#x017F;olche rege Bewegung und eine &#x017F;olche reiche Fu&#x0364;lle des<lb/>
men&#x017F;chlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le-<lb/>
ben auch in das Leblo&#x017F;e zu legen, und das Bild der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit mit die&#x017F;em Eifer zu verfolgen. <hi rendition="#g">O&#x017F;&#x017F;ians</hi> Men&#x017F;chen-<lb/>
welt z. B. war du&#x0364;rftig und einfo&#x0364;rmig; das Leblo&#x017F;e um ihn<lb/>
her hingegen war groß, kolo&#x017F;&#x017F;ali&#x017F;ch, ma&#x0364;chtig, drang &#x017F;ich al&#x017F;o<lb/>
auf, und behauptete &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;ber den Men&#x017F;chen &#x017F;eine Rechte.</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0036] an ihr hangen, und ſelbſt die lebloſe Welt mit der waͤrm- ſten Empfindung umfaſſen koͤnnen? Daher kommt es, weil die Natur bey uns aus der Menſchheit verſchwun- den iſt, und wir ſie nur auſſerhalb dieſer, in der unbe- ſeelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unſere groͤßere Naturmaͤßigkeit, ganz im Gegentheil die Naturwidrigkeit unſrer Verhaͤltniſſe, Zuſtaͤnde und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit und Simplicitaͤt, der, wie die moraliſche An- lage, aus welcher er flieſſet, unbeſtechlich und unaus- tilgbar in allen menſchlichen Herzen liegt, in der phy- ſiſchen Welt eine Befriedigung zu verſchaffen, die in der moraliſchen nicht zu hoffen iſt. Deßwegen iſt das Gefuͤhl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefuͤhle ſo nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindiſchen Unſchuld beklagen. Unſre Kindheit iſt die einzige unverſtuͤmmelte Natur, die wir in der kul- tivirten Menſchheit noch antreffen, daher es kein Wun- der iſt, wenn uns jede Fußſtapfe der Natur auſſer uns auf unſre Kindheit zuruͤckfuͤhrt. Sehr viel anders war es mit den alten Griechen. * * Aber auch nur bey den Griechen; denn es gehoͤrte gerade eine ſolche rege Bewegung und eine ſolche reiche Fuͤlle des menſchlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le- ben auch in das Lebloſe zu legen, und das Bild der Menſch- heit mit dieſem Eifer zu verfolgen. Oſſians Menſchen- welt z. B. war duͤrftig und einfoͤrmig; das Lebloſe um ihn her hingegen war groß, koloſſaliſch, maͤchtig, drang ſich alſo auf, und behauptete ſelbſt uͤber den Menſchen ſeine Rechte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/36
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/36>, abgerufen am 24.11.2024.