Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir Aber ihre Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, deckung von dem hohen philosophischen Beruf dieses Man-
nes (welcher schlechterdings beyde Eigenschaften verbunden fodert) zu überzeugen. Art des Wohlgefallens an der Natur kein aͤſthetiſches, Sie ſind, was wir waren; ſie ſind, was wir Aber ihre Vollkommenheit iſt nicht ihr Verdienſt, deckung von dem hohen philoſophiſchen Beruf dieſes Man-
nes (welcher ſchlechterdings beyde Eigenſchaften verbunden fodert) zu uͤberzeugen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0013" n="45"/> Art des Wohlgefallens an der Natur kein aͤſthetiſches,<lb/> ſondern ein moraliſches iſt; denn es wird durch eine Idee<lb/> vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt;<lb/> auch richtet es ſich ganz und gar nicht nach der Schoͤn-<lb/> heit der Formen. Was haͤtte auch eine unſcheinbare<lb/> Blume, eine Quelle, ein bemooßter Stein, das Gezwit-<lb/> ſcher der Voͤgel, das Summen der Bienen ꝛc. fuͤr ſich<lb/> ſelbſt ſo gefaͤlliges fuͤr uns? Was koͤnnte ihm gar einen<lb/> Anſpruch auf unſere Liebe geben? Es ſind nicht dieſe Ge-<lb/> genſtaͤnde, es iſt eine durch ſie dargeſtellte <hi rendition="#g">Idee</hi>, was<lb/> wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das ſtille ſchaf-<lb/> fende Leben, das ruhige Wirken aus ſich ſelbſt, das Da-<lb/> ſeyn nach eignen Geſetzen, die innere Nothwendigkeit,<lb/> die ewige Einheit mit ſich ſelbſt.</p><lb/> <p>Sie <hi rendition="#g">ſind</hi>, was wir <hi rendition="#g">waren</hi>; ſie ſind, was wir<lb/> wieder <hi rendition="#g">werden ſollen</hi>. Wir waren Natur, wie ſie,<lb/> und unſere Kultur ſoll uns, auf dem Wege der Vernunft<lb/> und der Freyheit, zur Natur zuruͤckfuͤhren. Sie ſind<lb/> alſo zugleich Darſtellung unſerer verlorenen Kindheit,<lb/> die uns ewig das theuerſte bleibt; daher ſie uns mit ei-<lb/> ner gewiſſen Wehmuth erfuͤllen. Zugleich ſind ſie Dar-<lb/> ſtellungen unſerer hoͤchſten Vollendung im Ideale, daher<lb/> ſie uns in eine erhabene Ruͤhrung verſetzen.</p><lb/> <p>Aber ihre Vollkommenheit iſt nicht ihr Verdienſt,<lb/> weil ſie nicht das Werk ihrer Wahl iſt. Sie gewaͤhren<lb/> uns alſo die ganz eigene Luſt, daß ſie, ohne uns zu be-<lb/><note xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="*">deckung von dem hohen philoſophiſchen Beruf dieſes Man-<lb/> nes (welcher ſchlechterdings beyde Eigenſchaften verbunden<lb/> fodert) zu uͤberzeugen.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [45/0013]
Art des Wohlgefallens an der Natur kein aͤſthetiſches,
ſondern ein moraliſches iſt; denn es wird durch eine Idee
vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt;
auch richtet es ſich ganz und gar nicht nach der Schoͤn-
heit der Formen. Was haͤtte auch eine unſcheinbare
Blume, eine Quelle, ein bemooßter Stein, das Gezwit-
ſcher der Voͤgel, das Summen der Bienen ꝛc. fuͤr ſich
ſelbſt ſo gefaͤlliges fuͤr uns? Was koͤnnte ihm gar einen
Anſpruch auf unſere Liebe geben? Es ſind nicht dieſe Ge-
genſtaͤnde, es iſt eine durch ſie dargeſtellte Idee, was
wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das ſtille ſchaf-
fende Leben, das ruhige Wirken aus ſich ſelbſt, das Da-
ſeyn nach eignen Geſetzen, die innere Nothwendigkeit,
die ewige Einheit mit ſich ſelbſt.
Sie ſind, was wir waren; ſie ſind, was wir
wieder werden ſollen. Wir waren Natur, wie ſie,
und unſere Kultur ſoll uns, auf dem Wege der Vernunft
und der Freyheit, zur Natur zuruͤckfuͤhren. Sie ſind
alſo zugleich Darſtellung unſerer verlorenen Kindheit,
die uns ewig das theuerſte bleibt; daher ſie uns mit ei-
ner gewiſſen Wehmuth erfuͤllen. Zugleich ſind ſie Dar-
ſtellungen unſerer hoͤchſten Vollendung im Ideale, daher
ſie uns in eine erhabene Ruͤhrung verſetzen.
Aber ihre Vollkommenheit iſt nicht ihr Verdienſt,
weil ſie nicht das Werk ihrer Wahl iſt. Sie gewaͤhren
uns alſo die ganz eigene Luſt, daß ſie, ohne uns zu be-
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* deckung von dem hohen philoſophiſchen Beruf dieſes Man-
nes (welcher ſchlechterdings beyde Eigenſchaften verbunden
fodert) zu uͤberzeugen.
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