Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete -- höre ich nahe an mir ein zartes Wispern, wie wenn jemand leise spricht -- ich wende mich nach dem Tone, und -- zwey Schritte von mir fällt mir eine weibliche Gestalt in die Augen -- -- Nein! ich kann sie nicht nachschildern, diese Gestalt! -- Schrecken war meine erste Empfindung, die aber bald dem süßesten Hinstaunen Platz machte."
Und diese Gestalt, gnädigster Herr -- wissen Sie auch gewiß, daß sie etwas lebendiges war, etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein Gesicht Ihrer Phantasie?
"Hören Sie weiter -- Es war eine Dame -- Nein! Ich hatte bis auf diesen Augenblick dieß Ge¬ schlecht nie gesehen! -- Alles war düster rings¬ herum, nur durch ein einziges Fenster fiel der unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war nirgends mehr, als auf dieser Gestalt. Mit un¬ aussprechlicher Anmuth -- halb knieend, halb liegend -- war sie vor einem Altar hingegossen -- der gewagteste, lieblichste, gelungenste Umriß, ein¬ zig und unnachahmlich, die schönste Linie in der Natur. In schwarzen Mohr war sie gekleidet, der sich spannend um den reitzendsten Leib, um die niedlichsten Arme schloß, und in weiten Falten, wie eine spanische Robe, um sie breitete; ihr lan¬ ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten geschlungen, die durch ihre Schwere los gegangen und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,
floß
Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete — höre ich nahe an mir ein zartes Wiſpern, wie wenn jemand leiſe ſpricht — ich wende mich nach dem Tone, und — zwey Schritte von mir fällt mir eine weibliche Geſtalt in die Augen — — Nein! ich kann ſie nicht nachſchildern, dieſe Geſtalt! — Schrecken war meine erſte Empfindung, die aber bald dem ſüßeſten Hinſtaunen Platz machte.“
Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen Sie auch gewiß, daß ſie etwas lebendiges war, etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein Geſicht Ihrer Phantaſie?
„Hören Sie weiter — Es war eine Dame — Nein! Ich hatte bis auf dieſen Augenblick dieß Ge¬ ſchlecht nie geſehen! — Alles war düſter rings¬ herum, nur durch ein einziges Fenſter fiel der unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war nirgends mehr, als auf dieſer Geſtalt. Mit un¬ ausſprechlicher Anmuth — halb knieend, halb liegend — war ſie vor einem Altar hingegoſſen — der gewagteſte, lieblichſte, gelungenſte Umriß, ein¬ zig und unnachahmlich, die ſchönſte Linie in der Natur. In ſchwarzen Mohr war ſie gekleidet, der ſich ſpannend um den reitzendſten Leib, um die niedlichſten Arme ſchloß, und in weiten Falten, wie eine ſpaniſche Robe, um ſie breitete; ihr lan¬ ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten geſchlungen, die durch ihre Schwere los gegangen und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,
floß
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Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete —
höre ich nahe an mir ein zartes Wiſpern, wie wenn
jemand leiſe ſpricht — ich wende mich nach dem
Tone, und — zwey Schritte von mir fällt mir
eine weibliche Geſtalt in die Augen — — Nein!
ich kann ſie nicht nachſchildern, dieſe Geſtalt! —
Schrecken war meine erſte Empfindung, die aber
bald dem ſüßeſten Hinſtaunen Platz machte.“
Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen
Sie auch gewiß, daß ſie etwas lebendiges war,
etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein
Geſicht Ihrer Phantaſie?
„Hören Sie weiter — Es war eine Dame —
Nein! Ich hatte bis auf dieſen Augenblick dieß Ge¬
ſchlecht nie geſehen! — Alles war düſter rings¬
herum, nur durch ein einziges Fenſter fiel der
unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war
nirgends mehr, als auf dieſer Geſtalt. Mit un¬
ausſprechlicher Anmuth — halb knieend, halb
liegend — war ſie vor einem Altar hingegoſſen —
der gewagteſte, lieblichſte, gelungenſte Umriß, ein¬
zig und unnachahmlich, die ſchönſte Linie in der
Natur. In ſchwarzen Mohr war ſie gekleidet,
der ſich ſpannend um den reitzendſten Leib, um die
niedlichſten Arme ſchloß, und in weiten Falten,
wie eine ſpaniſche Robe, um ſie breitete; ihr lan¬
ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten
geſchlungen, die durch ihre Schwere los gegangen
und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,
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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/179>, abgerufen am 15.08.2024.
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