Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete -- Und diese Gestalt, gnädigster Herr -- wissen "Hören Sie weiter -- Es war eine Dame -- floß
Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete — Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen „Hören Sie weiter — Es war eine Dame — floß
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0179" n="171"/> Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete —<lb/> höre ich nahe an mir ein zartes Wiſpern, wie wenn<lb/> jemand leiſe ſpricht — ich wende mich nach dem<lb/> Tone, und — zwey Schritte von mir fällt mir<lb/> eine weibliche Geſtalt in die Augen — — Nein!<lb/> ich kann ſie nicht nachſchildern, dieſe Geſtalt! —<lb/> Schrecken war meine erſte Empfindung, die aber<lb/> bald dem ſüßeſten Hinſtaunen Platz machte.“</p><lb/> <p>Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen<lb/> Sie auch gewiß, daß ſie etwas lebendiges war,<lb/> etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein<lb/> Geſicht Ihrer Phantaſie?</p><lb/> <p>„Hören Sie weiter — Es war eine Dame —<lb/> Nein! Ich hatte bis auf dieſen Augenblick dieß Ge¬<lb/> ſchlecht nie geſehen! — Alles war düſter rings¬<lb/> herum, nur durch ein einziges Fenſter fiel der<lb/> unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war<lb/> nirgends mehr, als auf dieſer Geſtalt. Mit un¬<lb/> ausſprechlicher Anmuth — halb knieend, halb<lb/> liegend — war ſie vor einem Altar hingegoſſen —<lb/> der gewagteſte, lieblichſte, gelungenſte Umriß, ein¬<lb/> zig und unnachahmlich, die ſchönſte Linie in der<lb/> Natur. In ſchwarzen Mohr war ſie gekleidet,<lb/> der ſich ſpannend um den reitzendſten Leib, um die<lb/> niedlichſten Arme ſchloß, und in weiten Falten,<lb/> wie eine ſpaniſche Robe, um ſie breitete; ihr lan¬<lb/> ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten<lb/> geſchlungen, die durch ihre Schwere los gegangen<lb/> und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">floß<lb/></fw> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [171/0179]
Wie ich in die Kapelle zur Rechten hinein trete —
höre ich nahe an mir ein zartes Wiſpern, wie wenn
jemand leiſe ſpricht — ich wende mich nach dem
Tone, und — zwey Schritte von mir fällt mir
eine weibliche Geſtalt in die Augen — — Nein!
ich kann ſie nicht nachſchildern, dieſe Geſtalt! —
Schrecken war meine erſte Empfindung, die aber
bald dem ſüßeſten Hinſtaunen Platz machte.“
Und dieſe Geſtalt, gnädigſter Herr — wiſſen
Sie auch gewiß, daß ſie etwas lebendiges war,
etwas wirkliches, kein bloßes Gemählde, kein
Geſicht Ihrer Phantaſie?
„Hören Sie weiter — Es war eine Dame —
Nein! Ich hatte bis auf dieſen Augenblick dieß Ge¬
ſchlecht nie geſehen! — Alles war düſter rings¬
herum, nur durch ein einziges Fenſter fiel der
unterge hende Tag in die Kapelle, die Sonne war
nirgends mehr, als auf dieſer Geſtalt. Mit un¬
ausſprechlicher Anmuth — halb knieend, halb
liegend — war ſie vor einem Altar hingegoſſen —
der gewagteſte, lieblichſte, gelungenſte Umriß, ein¬
zig und unnachahmlich, die ſchönſte Linie in der
Natur. In ſchwarzen Mohr war ſie gekleidet,
der ſich ſpannend um den reitzendſten Leib, um die
niedlichſten Arme ſchloß, und in weiten Falten,
wie eine ſpaniſche Robe, um ſie breitete; ihr lan¬
ges, lichtblondes Haar, in zwey breite Flechten
geſchlungen, die durch ihre Schwere los gegangen
und unter dem Schleier hervorgedrungen waren,
floß
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