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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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ermattenden Süden als frisches Blut zuzusenden,
wie sie auf ihrem physischen Gange das Meer über
Hollands und Seelands Küsten wirft, um vielleicht
eine Insel im fernen Amerika zu entblößen! Aber
auch im Einzelnen und im Kleinen fehlt es an sol¬
chen Winken nicht ganz. Wie oft thut die Mäßig¬
keit
eines Vaters, der längst nicht mehr ist, an
einem genievollen Sohne Wunder, wie oft ward
ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt um eine
Grabschrift zu verdienen, die in die Seele eines
späten Nachkömmlings einen Feuerstral werfen
soll! -- Weil vor Jahrhunderten ein verscheuchter
Vogel auf seinem Fluge einige Saamenkörner da
niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk
auf einem wüsten Eyland eine Aerndte -- und
ein moralischer Keim ging in einem so fruchtbaren
Erdreich verloren!

O bester Prinz! Ihre Beredsamkeit begeistert
mich zum Kampfe gegen Sie selber. So viel Vor¬
treflichkeit können Sie Ihrer fühllosen Nothwendig¬
keit gönnen, und wollen nicht lieber einen Gott da¬
mit glücklich machen? Sehen Sie in der ganzen
Schöpfung umher. Wo irgend nur ein Genuß
bereitet liegt, finden Sie ein genießendes Wesen --
und diesen unendlichen Genuß, dieses Mahl von
Vollkommenheit, sollte durch die ganze Ewigkeit
leer stehen?

"Sonderbar! sagte der Prinz nach einer tiefen
Stille. Worauf Sie und Andere ihre Hoff¬
nungen gründen, eben das hat die meinigen umge¬

stürzt
d. Geisterseher. L

ermattenden Süden als friſches Blut zuzuſenden,
wie ſie auf ihrem phyſiſchen Gange das Meer über
Hollands und Seelands Küſten wirft, um vielleicht
eine Inſel im fernen Amerika zu entblößen! Aber
auch im Einzelnen und im Kleinen fehlt es an ſol¬
chen Winken nicht ganz. Wie oft thut die Mäßig¬
keit
eines Vaters, der längſt nicht mehr iſt, an
einem genievollen Sohne Wunder, wie oft ward
ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt um eine
Grabſchrift zu verdienen, die in die Seele eines
ſpäten Nachkömmlings einen Feuerſtral werfen
ſoll! — Weil vor Jahrhunderten ein verſcheuchter
Vogel auf ſeinem Fluge einige Saamenkörner da
niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk
auf einem wüſten Eyland eine Aerndte — und
ein moraliſcher Keim ging in einem ſo fruchtbaren
Erdreich verloren!

O beſter Prinz! Ihre Beredſamkeit begeiſtert
mich zum Kampfe gegen Sie ſelber. So viel Vor¬
treflichkeit können Sie Ihrer fühlloſen Nothwendig¬
keit gönnen, und wollen nicht lieber einen Gott da¬
mit glücklich machen? Sehen Sie in der ganzen
Schöpfung umher. Wo irgend nur ein Genuß
bereitet liegt, finden Sie ein genießendes Weſen —
und dieſen unendlichen Genuß, dieſes Mahl von
Vollkommenheit, ſollte durch die ganze Ewigkeit
leer ſtehen?

„Sonderbar! ſagte der Prinz nach einer tiefen
Stille. Worauf Sie und Andere ihre Hoff¬
nungen gründen, eben das hat die meinigen umge¬

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[161/0169] ermattenden Süden als friſches Blut zuzuſenden, wie ſie auf ihrem phyſiſchen Gange das Meer über Hollands und Seelands Küſten wirft, um vielleicht eine Inſel im fernen Amerika zu entblößen! Aber auch im Einzelnen und im Kleinen fehlt es an ſol¬ chen Winken nicht ganz. Wie oft thut die Mäßig¬ keit eines Vaters, der längſt nicht mehr iſt, an einem genievollen Sohne Wunder, wie oft ward ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt um eine Grabſchrift zu verdienen, die in die Seele eines ſpäten Nachkömmlings einen Feuerſtral werfen ſoll! — Weil vor Jahrhunderten ein verſcheuchter Vogel auf ſeinem Fluge einige Saamenkörner da niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk auf einem wüſten Eyland eine Aerndte — und ein moraliſcher Keim ging in einem ſo fruchtbaren Erdreich verloren! O beſter Prinz! Ihre Beredſamkeit begeiſtert mich zum Kampfe gegen Sie ſelber. So viel Vor¬ treflichkeit können Sie Ihrer fühlloſen Nothwendig¬ keit gönnen, und wollen nicht lieber einen Gott da¬ mit glücklich machen? Sehen Sie in der ganzen Schöpfung umher. Wo irgend nur ein Genuß bereitet liegt, finden Sie ein genießendes Weſen — und dieſen unendlichen Genuß, dieſes Mahl von Vollkommenheit, ſollte durch die ganze Ewigkeit leer ſtehen? „Sonderbar! ſagte der Prinz nach einer tiefen Stille. Worauf Sie und Andere ihre Hoff¬ nungen gründen, eben das hat die meinigen umge¬ ſtürzt d. Geiſterſeher. L

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/169>, abgerufen am 27.11.2024.