Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.Dritter Brief. Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freye Spontaneität noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben. Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich - in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach blossen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn - und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verlässt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Nothwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freyheit von ihr scheidet, wie er, um nur Ein Beyspiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfniß der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So hohlt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit Dritter Brief. Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freye Spontaneität noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben. Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich – in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach blossen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn – und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verlässt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Nothwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freyheit von ihr scheidet, wie er, um nur Ein Beyspiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfniß der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So hohlt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0007" n="13"/> <head> <hi rendition="#g">Dritter Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freye Spontaneität noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.</p> <p>Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich – in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach blossen Naturgesetzen ein, ehe <hi rendition="#g">er</hi> es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn – und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verlässt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Nothwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freyheit von ihr scheidet, wie er, um nur Ein Beyspiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfniß der Geschlechtsliebe <choice><sic>ausdrückte</sic><corr>aufdrückte</corr></choice>, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So hohlt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0007]
Dritter Brief.
Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freye Spontaneität noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.
Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich – in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach blossen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn – und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verlässt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Nothwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freyheit von ihr scheidet, wie er, um nur Ein Beyspiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfniß der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So hohlt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/7 |
Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/7>, abgerufen am 16.02.2025. |