Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

Bild:
<< vorherige Seite

Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in Betrachtung kommen. Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannichfaltigkeit, und von beyden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der erstern ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtseyn, das Gesetz der andern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt. Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet seyn, die nur durch Aufhebung der Mannichfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist. Der Staat soll nicht blos den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren, und indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern.

Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken, ihr Gewalt anzuthun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Theile willen, sondern an den Theilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne Künstler seine Hand an die nehmliche Masse legt, so trägt er eben so wenig Bedenken, ihr Gewalt anzuthun, nur vermeidet er, sie zu zeigen. Den Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr, als der mechanische Künstler, aber das Auge, welches die Freyheit dieses Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch eine scheinbare Nachgiebigkeit gegen denselben zu täuschen suchen. Ganz anders verhält

Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in Betrachtung kommen. Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannichfaltigkeit, und von beyden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der erstern ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtseyn, das Gesetz der andern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt. Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet seyn, die nur durch Aufhebung der Mannichfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist. Der Staat soll nicht blos den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren, und indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern.

Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken, ihr Gewalt anzuthun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Theile willen, sondern an den Theilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne Künstler seine Hand an die nehmliche Masse legt, so trägt er eben so wenig Bedenken, ihr Gewalt anzuthun, nur vermeidet er, sie zu zeigen. Den Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr, als der mechanische Künstler, aber das Auge, welches die Freyheit dieses Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch eine scheinbare Nachgiebigkeit gegen denselben zu täuschen suchen. Ganz anders verhält

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0013" n="19"/>
Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in Betrachtung kommen. Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannichfaltigkeit, und von beyden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der erstern ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtseyn, das Gesetz der andern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt. Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet seyn, die nur durch Aufhebung der Mannichfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist. Der Staat soll nicht blos den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren, und indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern.</p>
          <p>Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken, ihr Gewalt anzuthun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Theile willen, sondern an den Theilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne Künstler seine Hand an die nehmliche Masse legt, so trägt er eben so wenig Bedenken, ihr Gewalt anzuthun, nur vermeidet er, sie zu zeigen. Den Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr, als der mechanische Künstler, aber das Auge, welches die Freyheit dieses Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch eine scheinbare Nachgiebigkeit gegen denselben zu täuschen suchen. Ganz anders verhält
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0013] Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in Betrachtung kommen. Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannichfaltigkeit, und von beyden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der erstern ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtseyn, das Gesetz der andern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt. Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet seyn, die nur durch Aufhebung der Mannichfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist. Der Staat soll nicht blos den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren, und indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern. Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken, ihr Gewalt anzuthun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Theile willen, sondern an den Theilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne Künstler seine Hand an die nehmliche Masse legt, so trägt er eben so wenig Bedenken, ihr Gewalt anzuthun, nur vermeidet er, sie zu zeigen. Den Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr, als der mechanische Künstler, aber das Auge, welches die Freyheit dieses Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch eine scheinbare Nachgiebigkeit gegen denselben zu täuschen suchen. Ganz anders verhält

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Friedrich Schiller Archiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-25T14:19:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-11-25T14:19:32Z)
Universitätsbibliothek Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-11-25T14:19:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/13
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/13>, abgerufen am 18.12.2024.