Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.Vierter Brief. Soviel ist gewiß: nur das Uebergewicht eines solchen Charakters bey einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Principien unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer verbürgen. Bei Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet, und der freye Wille wird in das Reich der Ursachen gezogen, wo alles mit strenger Nothwendigkeit und Stetigkeit aneinander hängt. Wir wissen aber, daß die Bestimmungen des menschlichen Willens immer zufällig bleiben, und daß nur bey dem absoluten Wesen die physische Nothwendigkeit mit der moralischen zusammenfällt. Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muß es Natur seyn, und er muß schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Charakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frey zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nöthigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beybehalten, und nichts destoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte seyn, so kann dieß nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen gleich ausfallen, und, bey aller Verschiedenheit in der Form, die Materie seines Wollens dieselbe bleibt; daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstim- Vierter Brief. Soviel ist gewiß: nur das Uebergewicht eines solchen Charakters bey einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Principien unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer verbürgen. Bei Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet, und der freye Wille wird in das Reich der Ursachen gezogen, wo alles mit strenger Nothwendigkeit und Stetigkeit aneinander hängt. Wir wissen aber, daß die Bestimmungen des menschlichen Willens immer zufällig bleiben, und daß nur bey dem absoluten Wesen die physische Nothwendigkeit mit der moralischen zusammenfällt. Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muß es Natur seyn, und er muß schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Charakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frey zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nöthigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beybehalten, und nichts destoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte seyn, so kann dieß nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen gleich ausfallen, und, bey aller Verschiedenheit in der Form, die Materie seines Wollens dieselbe bleibt; daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstim- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0011" n="17"/> <head> <hi rendition="#g">Vierter Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>oviel ist gewiß: nur das Uebergewicht eines solchen Charakters bey einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Principien unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer verbürgen. 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Soll er also dieses Vermögen der Wahl beybehalten, und nichts destoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte seyn, so kann dieß nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen gleich ausfallen, und, bey aller Verschiedenheit in der Form, die Materie seines Wollens dieselbe bleibt; daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstim- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [17/0011]
Vierter Brief.
Soviel ist gewiß: nur das Uebergewicht eines solchen Charakters bey einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Principien unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer verbürgen. Bei Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet, und der freye Wille wird in das Reich der Ursachen gezogen, wo alles mit strenger Nothwendigkeit und Stetigkeit aneinander hängt. Wir wissen aber, daß die Bestimmungen des menschlichen Willens immer zufällig bleiben, und daß nur bey dem absoluten Wesen die physische Nothwendigkeit mit der moralischen zusammenfällt. Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muß es Natur seyn, und er muß schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Charakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frey zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nöthigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beybehalten, und nichts destoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte seyn, so kann dieß nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen gleich ausfallen, und, bey aller Verschiedenheit in der Form, die Materie seines Wollens dieselbe bleibt; daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstim-
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/11>, abgerufen am 16.02.2025. |