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Scheuchzer, Johann Jacob: Beschreibung der Natur-Geschichten Des Schweizerlands. Bd. 1. Zürich, 1706.

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die Nordische Lande gereiset/ daß er einsmals habe einen jungen
Mann am Wege beynahe todt/ und steiff vom Frost gefunden/
und als er ihn zu sich in seinen Schlitten genommen/ hab er ihn
bis in die nächste Herberg führen lassen/ auf daß er nicht von den
wilden Thieren zerrissen/ und gefressen wurde. Der Wirth aber
habe ihm angezeigt/ man müsse geschwind den ganzen Leib in kalt
Wasser werffen/ und nachdem solches geschehen/ seye der Frost
außgezogen/ und der ganze Leib mit Eis/ gleich als mit einem
Harnisch/ überzogen worden. Darnach aber habe man ihm ei-
nen starken trunk Mett mit gestossenem Zimmet/ Negelin/ Mu-
scatblust zutrinken gegeben/ und im Beth warm zugedekt/ zum
schwitzen bracht/ und sey also widerum zu ihm selbsten kommen/
und gesund worden: Allein daß ihm die spitzen/ oder erste Gleiche
der Fingeren/ und Zehen/ seyen abgefallen.
Es wird eine solche Hei-
lungsweise nicht fremd vorkommen dem/ der jemalen gefrorne Apfel/ Eyer/
Rüben/ in Eiskaltes Wasser werffen/ und die um sie gezogene Eisrinde/ ge-
sehen. Leget man gefrörne Früchte alsobald in die wärme/ so gehen sie zu-
grund; Badet man gefrorne Menschen/ oder Thiere/ und dero Glieder in
warmem Wasser/ so ersterben sie. Warum? Es geschihet hier eine mutatio
ab uno extremo ad aliud,
eine änderung von grosser kälte in grosse wärme;
der gleichen Sprünge von einem Ast auf den anderen leidet die Natur nicht.
Die von der Kälte allzustark getrukte Zäserlein lassen sich nicht ohne gewalt/
und gefahr/ einsmals von der wärme auflösen. Geschihet aber disere auflösung
gemachlich/ von grimmig kalter Luft in kaltes Wasser/ von disem in laues/ bis
man endlich kommet zu dem warmen/ so kommet man zu erwünschtem zwek. Gleich
also wird die flüssig-brennende Materi des Glases auß dem feutheissen Ofen
gebracht/ nicht alsobald an die kalte Luft/ weilen also die Gläser springen/ son-
dern von einem Kühlofen in den anderen/ bis die erstarreten Glaß-zäsern den
gewaltder ausseren trukenden Luft ertragen mögen. Die Eisrinde/ welche sich
um die aufgefrornen Glieder anleget/ ist nicht/ wie die alten geglaubt/ ein auß
dem Leib gezogenes Eis/ sondern kommet vilmehr von dem umgebenden
Wasser selbs her/ als welches an dem noch kälte[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]en Leib in Eis verwandelt
wird/ gleichwie die tröpflein an dem Marmor/ oder die winterliche vilförmige
gefrörne in Fensteren nicht zunennen ist ein wahrhafter Schweiß des Mar-
mors/ oder Glases selbs/ sondern herzuleiten von denen in der Luft schweben-

den/

die Nordiſche Lande gereiſet/ daß er einsmals habe einen jungen
Mann am Wege beynahe todt/ und ſteiff vom Froſt gefunden/
und als er ihn zu ſich in ſeinen Schlitten genommen/ hab er ihn
bis in die naͤchſte Herberg fuͤhren laſſen/ auf daß er nicht von den
wilden Thieren zerꝛiſſen/ und gefreſſen wurde. Der Wirth aber
habe ihm angezeigt/ man muͤſſe geſchwind den ganzen Leib in kalt
Waſſer werffen/ und nachdem ſolches geſchehen/ ſeye der Froſt
außgezogen/ und der ganze Leib mit Eis/ gleich als mit einem
Harniſch/ uͤberzogen worden. Darnach aber habe man ihm ei-
nen ſtarken trunk Mett mit geſtoſſenem Zimmet/ Negelin/ Mu-
ſcatbluſt zutrinken gegeben/ und im Beth warm zugedekt/ zum
ſchwitzen bracht/ und ſey alſo widerum zu ihm ſelbſten kommen/
und geſund worden: Allein daß ihm die ſpitzen/ oder erſte Gleiche
der Fingeren/ und Zehen/ ſeyen abgefallen.
Es wird eine ſolche Hei-
lungsweiſe nicht fremd vorkommen dem/ der jemalen gefrorne Apfel/ Eyer/
Ruͤben/ in Eiskaltes Waſſer werffen/ und die um ſie gezogene Eisrinde/ ge-
ſehen. Leget man gefroͤrne Fruͤchte alſobald in die waͤrme/ ſo gehen ſie zu-
grund; Badet man gefrorne Menſchen/ oder Thiere/ und dero Glieder in
warmem Waſſer/ ſo erſterben ſie. Warum? Es geſchihet hier eine mutatio
ab uno extremo ad aliud,
eine aͤnderung von groſſer kaͤlte in groſſe waͤrme;
der gleichen Spruͤnge von einem Aſt auf den anderen leidet die Natur nicht.
Die von der Kaͤlte allzuſtark getrukte Zaͤſerlein laſſen ſich nicht ohne gewalt/
und gefahr/ einsmals von der waͤrme aufloͤſen. Geſchihet aber diſere aufloͤſung
gemachlich/ von grim̃ig kalter Luft in kaltes Waſſer/ von diſem in laues/ bis
man endlich kom̃et zu dem warmẽ/ ſo kom̃et man zu erwuͤnſchtem zwek. Gleich
alſo wird die fluͤſſig-brennende Materi des Glaſes auß dem feutheiſſen Ofen
gebracht/ nicht alſobald an die kalte Luft/ weilen alſo die Glaͤſer ſpringen/ ſon-
dern von einem Kuͤhlofen in den anderen/ bis die erſtarꝛeten Glaß-zaͤſern den
gewaltder auſſeren trukenden Luft ertragen moͤgen. Die Eisrinde/ welche ſich
um die aufgefrornen Glieder anleget/ iſt nicht/ wie die alten geglaubt/ ein auß
dem Leib gezogenes Eis/ ſondern kommet vilmehr von dem umgebenden
Waſſer ſelbs her/ als welches an dem noch kaͤlte[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]en Leib in Eis verwandelt
wird/ gleichwie die troͤpflein an dem Marmor/ oder die winterliche vilfoͤrmige
gefroͤrne in Fenſteren nicht zunennen iſt ein wahrhafter Schweiß des Mar-
mors/ oder Glaſes ſelbs/ ſondern herzuleiten von denen in der Luft ſchweben-

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[(75)[75]/0098] die Nordiſche Lande gereiſet/ daß er einsmals habe einen jungen Mann am Wege beynahe todt/ und ſteiff vom Froſt gefunden/ und als er ihn zu ſich in ſeinen Schlitten genommen/ hab er ihn bis in die naͤchſte Herberg fuͤhren laſſen/ auf daß er nicht von den wilden Thieren zerꝛiſſen/ und gefreſſen wurde. Der Wirth aber habe ihm angezeigt/ man muͤſſe geſchwind den ganzen Leib in kalt Waſſer werffen/ und nachdem ſolches geſchehen/ ſeye der Froſt außgezogen/ und der ganze Leib mit Eis/ gleich als mit einem Harniſch/ uͤberzogen worden. Darnach aber habe man ihm ei- nen ſtarken trunk Mett mit geſtoſſenem Zimmet/ Negelin/ Mu- ſcatbluſt zutrinken gegeben/ und im Beth warm zugedekt/ zum ſchwitzen bracht/ und ſey alſo widerum zu ihm ſelbſten kommen/ und geſund worden: Allein daß ihm die ſpitzen/ oder erſte Gleiche der Fingeren/ und Zehen/ ſeyen abgefallen. Es wird eine ſolche Hei- lungsweiſe nicht fremd vorkommen dem/ der jemalen gefrorne Apfel/ Eyer/ Ruͤben/ in Eiskaltes Waſſer werffen/ und die um ſie gezogene Eisrinde/ ge- ſehen. Leget man gefroͤrne Fruͤchte alſobald in die waͤrme/ ſo gehen ſie zu- grund; Badet man gefrorne Menſchen/ oder Thiere/ und dero Glieder in warmem Waſſer/ ſo erſterben ſie. Warum? Es geſchihet hier eine mutatio ab uno extremo ad aliud, eine aͤnderung von groſſer kaͤlte in groſſe waͤrme; der gleichen Spruͤnge von einem Aſt auf den anderen leidet die Natur nicht. Die von der Kaͤlte allzuſtark getrukte Zaͤſerlein laſſen ſich nicht ohne gewalt/ und gefahr/ einsmals von der waͤrme aufloͤſen. Geſchihet aber diſere aufloͤſung gemachlich/ von grim̃ig kalter Luft in kaltes Waſſer/ von diſem in laues/ bis man endlich kom̃et zu dem warmẽ/ ſo kom̃et man zu erwuͤnſchtem zwek. Gleich alſo wird die fluͤſſig-brennende Materi des Glaſes auß dem feutheiſſen Ofen gebracht/ nicht alſobald an die kalte Luft/ weilen alſo die Glaͤſer ſpringen/ ſon- dern von einem Kuͤhlofen in den anderen/ bis die erſtarꝛeten Glaß-zaͤſern den gewaltder auſſeren trukenden Luft ertragen moͤgen. Die Eisrinde/ welche ſich um die aufgefrornen Glieder anleget/ iſt nicht/ wie die alten geglaubt/ ein auß dem Leib gezogenes Eis/ ſondern kommet vilmehr von dem umgebenden Waſſer ſelbs her/ als welches an dem noch kaͤlte_en Leib in Eis verwandelt wird/ gleichwie die troͤpflein an dem Marmor/ oder die winterliche vilfoͤrmige gefroͤrne in Fenſteren nicht zunennen iſt ein wahrhafter Schweiß des Mar- mors/ oder Glaſes ſelbs/ ſondern herzuleiten von denen in der Luft ſchweben- den/

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Zitationshilfe: Scheuchzer, Johann Jacob: Beschreibung der Natur-Geschichten Des Schweizerlands. Bd. 1. Zürich, 1706, S. (75)[75]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheuchzer_naturgeschichten01_1706/98>, abgerufen am 22.11.2024.