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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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die Poetik für unfehlbar halten. A. W. Schlegel (Vorlesungen psc_043.002
1, 43), wirft dem Aristoteles vor, er zergliedere und classificire psc_043.003
das Vorhandene wie jedes andere Naturproduct ohne psc_043.004
Rücksicht auf Schönheit. Er hat noch sonst allerlei zu bemerken psc_043.005
über den Mangel an ästhetischem Kunstsinn bei Aristoteles. psc_043.006
Jch sehe umgekehrt grade hierin einen großen Vorzug psc_043.007
des Aristoteles. Er schöpft nicht alles aus; aber innerhalb psc_043.008
der Beschränkung, die ihm auferlegt ist oder die er sich selbst psc_043.009
auferlegt, kommt er zu dauernden Beobachtungen, weil er so psc_043.010
treu beobachtet und classificirt. Ja, Aristoteles ist mir -- psc_043.011
abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns psc_043.012
von selbst reicher macht, als er war -- nicht Naturforscher psc_043.013
genug. Er behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene psc_043.014
Dichtung mit der kühlen Beobachtung, Analyse und Classification psc_043.015
des Naturforschers. Er ist mir zu sehr Gesetzgeber. psc_043.016
Er sucht die wahre Tragödie und das wahre Epos; er psc_043.017
macht Werthunterschiede, die sich entschieden bestreiten lassen; psc_043.018
er ist nicht unparteiisch gegenüber den Erscheinungen, die er psc_043.019
findet, und er verwirft vorschnell, wie sich noch nachweisen psc_043.020
läßt, vielbehandelte Gattungen; z. B. die Erzählung, in die psc_043.021
der Erzähler seine Persönlichkeit einmischt. Wir brauchen psc_043.022
ja nur den Homer anzusehn: jedes Epitheton, das er seinen psc_043.023
Helden beilegt, ist doch ein Urteil, das der Dichter abgiebt. -- psc_043.024
Aristoteles hat einseitige Jdeale; so auf dem Gebiete des psc_043.025
Dramas: namentlich ist er dem Aristophanes abgeneigt und psc_043.026
begünstigt die mittlere attische Komödie, wie denn die neuere psc_043.027
attische Komödie unter seinem Einfluß zu stehen scheint psc_043.028
(Bernays, S. 152 und sonst). Also er ist zu sehr Gesetzgeber;

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die Poetik für unfehlbar halten. A. W. Schlegel (Vorlesungen psc_043.002
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treu beobachtet und classificirt. Ja, Aristoteles ist mir — psc_043.011
abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns psc_043.012
von selbst reicher macht, als er war — nicht Naturforscher psc_043.013
genug. Er behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene psc_043.014
Dichtung mit der kühlen Beobachtung, Analyse und Classification psc_043.015
des Naturforschers. Er ist mir zu sehr Gesetzgeber. psc_043.016
Er sucht die wahre Tragödie und das wahre Epos; er psc_043.017
macht Werthunterschiede, die sich entschieden bestreiten lassen; psc_043.018
er ist nicht unparteiisch gegenüber den Erscheinungen, die er psc_043.019
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der Erzähler seine Persönlichkeit einmischt. Wir brauchen psc_043.022
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Dramas: namentlich ist er dem Aristophanes abgeneigt und psc_043.026
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[43/0059] psc_043.001 die Poetik für unfehlbar halten. A. W. Schlegel (Vorlesungen psc_043.002 1, 43), wirft dem Aristoteles vor, er zergliedere und classificire psc_043.003 das Vorhandene wie jedes andere Naturproduct ohne psc_043.004 Rücksicht auf Schönheit. Er hat noch sonst allerlei zu bemerken psc_043.005 über den Mangel an ästhetischem Kunstsinn bei Aristoteles. psc_043.006 Jch sehe umgekehrt grade hierin einen großen Vorzug psc_043.007 des Aristoteles. Er schöpft nicht alles aus; aber innerhalb psc_043.008 der Beschränkung, die ihm auferlegt ist oder die er sich selbst psc_043.009 auferlegt, kommt er zu dauernden Beobachtungen, weil er so psc_043.010 treu beobachtet und classificirt. Ja, Aristoteles ist mir — psc_043.011 abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns psc_043.012 von selbst reicher macht, als er war — nicht Naturforscher psc_043.013 genug. Er behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene psc_043.014 Dichtung mit der kühlen Beobachtung, Analyse und Classification psc_043.015 des Naturforschers. Er ist mir zu sehr Gesetzgeber. psc_043.016 Er sucht die wahre Tragödie und das wahre Epos; er psc_043.017 macht Werthunterschiede, die sich entschieden bestreiten lassen; psc_043.018 er ist nicht unparteiisch gegenüber den Erscheinungen, die er psc_043.019 findet, und er verwirft vorschnell, wie sich noch nachweisen psc_043.020 läßt, vielbehandelte Gattungen; z. B. die Erzählung, in die psc_043.021 der Erzähler seine Persönlichkeit einmischt. Wir brauchen psc_043.022 ja nur den Homer anzusehn: jedes Epitheton, das er seinen psc_043.023 Helden beilegt, ist doch ein Urteil, das der Dichter abgiebt. — psc_043.024 Aristoteles hat einseitige Jdeale; so auf dem Gebiete des psc_043.025 Dramas: namentlich ist er dem Aristophanes abgeneigt und psc_043.026 begünstigt die mittlere attische Komödie, wie denn die neuere psc_043.027 attische Komödie unter seinem Einfluß zu stehen scheint psc_043.028 (Bernays, S. 152 und sonst). Also er ist zu sehr Gesetzgeber;

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/59>, abgerufen am 23.11.2024.