Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_021.001 Es war zum zweiten Mal, daß ich diese Art des Vortrags psc_021.006 Ja auch in Deutschland ist die charakterisirend sprechende psc_021.013 psc_021.001 Es war zum zweiten Mal, daß ich diese Art des Vortrags psc_021.006 Ja auch in Deutschland ist die charakterisirend sprechende psc_021.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0037" n="21"/><lb n="psc_021.001"/> Wirklichkeit in der Sprache: Conversationston des täglichen <lb n="psc_021.002"/> Lebens. Andere dagegen, Darsteller männlicher Rollen, <lb n="psc_021.003"/> wandten die pathetisch tremolirende Stimme durch alle Theile <lb n="psc_021.004"/> ihrer Rollen an. So hat wohl auch Talma gesprochen.</p> <lb n="psc_021.005"/> <p> Es war zum zweiten Mal, daß ich diese Art des Vortrags <lb n="psc_021.006"/> hörte. Einmal hatte ich sie gehört, als ein holländischer <lb n="psc_021.007"/> College mir einige Zeilen des Dichters Bilderdijk vorlas. Die <lb n="psc_021.008"/> französische tragische Schule hat offenbar auf die Declamation <lb n="psc_021.009"/> der Holländer so eingewirkt, daß selbst innerhalb des Vorlesens, <lb n="psc_021.010"/> wo kunstmäßiges Vorlesen beabsichtigt wird, dieser <lb n="psc_021.011"/> Ton Anwendung findet.</p> <lb n="psc_021.012"/> <p> Ja auch in Deutschland ist die charakterisirend sprechende <lb n="psc_021.013"/> Art des Vortrags nicht die unbedingt herrschende. Jch sehe <lb n="psc_021.014"/> von Damen ab, die durch Unfähigkeit in eintönig klappernden <lb n="psc_021.015"/> Rhythmus fallen. Jch kenne hochgebildete Menschen, welche <lb n="psc_021.016"/> Verse viel lieber halb scandirend und in gleichmäßigem <lb n="psc_021.017"/> Tone selbst citiren und vorlesen hören, als mit dem Versuch <lb n="psc_021.018"/> durchgebildeter Accentuation. Und höchst eigenthümlich war <lb n="psc_021.019"/> die Art wie Emanuel Geibel las. Vom Standpunct des <lb n="psc_021.020"/> charakteristischen Sprechens war man zuerst unangenehm <lb n="psc_021.021"/> überrascht. Denn es war in seinem Vortrag etwas „Singendes“, <lb n="psc_021.022"/> d. h. über die natürliche Rede sich Erhebendes, einer <lb n="psc_021.023"/> Art Normal-Sprech-Melodie Zustrebendes. Bald aber empfand <lb n="psc_021.024"/> man das nicht mehr als etwas Unnatürliches, sondern <lb n="psc_021.025"/> als ein besonderes poetisches Element, eine Sprechweise für <lb n="psc_021.026"/> sich, innerhalb deren doch eine strenge und getreue Charakteristik <lb n="psc_021.027"/> möglich war, welche Geibel mit der größten Kunst </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0037]
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Wirklichkeit in der Sprache: Conversationston des täglichen psc_021.002
Lebens. Andere dagegen, Darsteller männlicher Rollen, psc_021.003
wandten die pathetisch tremolirende Stimme durch alle Theile psc_021.004
ihrer Rollen an. So hat wohl auch Talma gesprochen.
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Es war zum zweiten Mal, daß ich diese Art des Vortrags psc_021.006
hörte. Einmal hatte ich sie gehört, als ein holländischer psc_021.007
College mir einige Zeilen des Dichters Bilderdijk vorlas. Die psc_021.008
französische tragische Schule hat offenbar auf die Declamation psc_021.009
der Holländer so eingewirkt, daß selbst innerhalb des Vorlesens, psc_021.010
wo kunstmäßiges Vorlesen beabsichtigt wird, dieser psc_021.011
Ton Anwendung findet.
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Ja auch in Deutschland ist die charakterisirend sprechende psc_021.013
Art des Vortrags nicht die unbedingt herrschende. Jch sehe psc_021.014
von Damen ab, die durch Unfähigkeit in eintönig klappernden psc_021.015
Rhythmus fallen. Jch kenne hochgebildete Menschen, welche psc_021.016
Verse viel lieber halb scandirend und in gleichmäßigem psc_021.017
Tone selbst citiren und vorlesen hören, als mit dem Versuch psc_021.018
durchgebildeter Accentuation. Und höchst eigenthümlich war psc_021.019
die Art wie Emanuel Geibel las. Vom Standpunct des psc_021.020
charakteristischen Sprechens war man zuerst unangenehm psc_021.021
überrascht. Denn es war in seinem Vortrag etwas „Singendes“, psc_021.022
d. h. über die natürliche Rede sich Erhebendes, einer psc_021.023
Art Normal-Sprech-Melodie Zustrebendes. Bald aber empfand psc_021.024
man das nicht mehr als etwas Unnatürliches, sondern psc_021.025
als ein besonderes poetisches Element, eine Sprechweise für psc_021.026
sich, innerhalb deren doch eine strenge und getreue Charakteristik psc_021.027
möglich war, welche Geibel mit der größten Kunst
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