Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
psc_018.001

Weit schwieriger nun ist die Frage: was gehört aus psc_018.002
dem Reich der ungebundenen Rede zu unserer Aufgabe?

psc_018.003

Aber ehe wir dazu übergehen, müssen wir noch an die psc_018.004
vorher erhobene Forderung erinnern, sich Poesie, ehe sie im psc_018.005
Stillen gelesene Poesie wurde, in ihrer lebendigen Erscheinung psc_018.006
vorzustellen; d. h. eine Betrachtung wäre hier nöthig über den psc_018.007
Vortrag der gebundenen Rede bei den verschiedenen Völkern; psc_018.008
über die Gegensätze von Gesang, Recitativ und Sprechen psc_018.009
nicht bloß, sondern über die mancherlei Nuancen, die dabei psc_018.010
möglich sind; über die angewandten und nicht angewandten psc_018.011
begleitenden Jnstrumente u. s. w. Ein reiches Material stellt psc_018.012
die Anthropologie und Geographie hier zur Verfügung, und psc_018.013
über weite Gebiete hin finden sich analoge Erscheinungen psc_018.014
zum Beweise der überall gleichen Natur des Menschen. Nach psc_018.015
einem allgemeinen Gesetze darf wohl vermuthet werden, daß psc_018.016
ein ursprünglich roher ungeordneter formloser an den natürlichen psc_018.017
Schrei anknüpfender Gesang durch eine sehr strenge psc_018.018
Form verdrängt wurde, eine strenge Form, die wie ein starres psc_018.019
Gesetz über dem Texte stand. Diese individualisirte sich aber psc_018.020
dann nach und nach; und so entsteht wieder eine größere psc_018.021
Freiheit. So im Vortrag recitativischer Art, oder ans Recitativische psc_018.022
streifend eintönige Melodien, die zur Charakteristik psc_018.023
wenig Raum bieten. Die stärkste individuelle Freiheit des psc_018.024
Vortragenden hat natürlich der Sprechvortrag. Noch hat er psc_018.025
einiges mit dem Gesang gemein: das Tempo, denn bestimmte psc_018.026
Gedichte verlangen je nach der Stimmung ein verschiedenes psc_018.027
Tempo; die Stärke (s. Arist. Rhet. III. 9 B); die Stimmlage,

psc_018.001

  Weit schwieriger nun ist die Frage: was gehört aus psc_018.002
dem Reich der ungebundenen Rede zu unserer Aufgabe?

psc_018.003

  Aber ehe wir dazu übergehen, müssen wir noch an die psc_018.004
vorher erhobene Forderung erinnern, sich Poesie, ehe sie im psc_018.005
Stillen gelesene Poesie wurde, in ihrer lebendigen Erscheinung psc_018.006
vorzustellen; d. h. eine Betrachtung wäre hier nöthig über den psc_018.007
Vortrag der gebundenen Rede bei den verschiedenen Völkern; psc_018.008
über die Gegensätze von Gesang, Recitativ und Sprechen psc_018.009
nicht bloß, sondern über die mancherlei Nuancen, die dabei psc_018.010
möglich sind; über die angewandten und nicht angewandten psc_018.011
begleitenden Jnstrumente u. s. w. Ein reiches Material stellt psc_018.012
die Anthropologie und Geographie hier zur Verfügung, und psc_018.013
über weite Gebiete hin finden sich analoge Erscheinungen psc_018.014
zum Beweise der überall gleichen Natur des Menschen. Nach psc_018.015
einem allgemeinen Gesetze darf wohl vermuthet werden, daß psc_018.016
ein ursprünglich roher ungeordneter formloser an den natürlichen psc_018.017
Schrei anknüpfender Gesang durch eine sehr strenge psc_018.018
Form verdrängt wurde, eine strenge Form, die wie ein starres psc_018.019
Gesetz über dem Texte stand. Diese individualisirte sich aber psc_018.020
dann nach und nach; und so entsteht wieder eine größere psc_018.021
Freiheit. So im Vortrag recitativischer Art, oder ans Recitativische psc_018.022
streifend eintönige Melodien, die zur Charakteristik psc_018.023
wenig Raum bieten. Die stärkste individuelle Freiheit des psc_018.024
Vortragenden hat natürlich der Sprechvortrag. Noch hat er psc_018.025
einiges mit dem Gesang gemein: das Tempo, denn bestimmte psc_018.026
Gedichte verlangen je nach der Stimmung ein verschiedenes psc_018.027
Tempo; die Stärke (s. Arist. Rhet. III. 9 B); die Stimmlage,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0034" n="18"/>
            <lb n="psc_018.001"/>
            <p>  Weit schwieriger nun ist die Frage: was gehört aus <lb n="psc_018.002"/>
dem Reich der ungebundenen Rede zu unserer Aufgabe?</p>
            <lb n="psc_018.003"/>
            <p>  Aber ehe wir dazu übergehen, müssen wir noch an die <lb n="psc_018.004"/>
vorher erhobene Forderung erinnern, sich Poesie, ehe sie im <lb n="psc_018.005"/>
Stillen gelesene Poesie wurde, in ihrer lebendigen Erscheinung <lb n="psc_018.006"/>
vorzustellen; d. h. eine Betrachtung wäre hier nöthig über den <lb n="psc_018.007"/>
Vortrag der gebundenen Rede bei den verschiedenen Völkern; <lb n="psc_018.008"/>
über die Gegensätze von Gesang, Recitativ und Sprechen <lb n="psc_018.009"/>
nicht bloß, sondern über die mancherlei Nuancen, die dabei <lb n="psc_018.010"/>
möglich sind; über die angewandten und nicht angewandten <lb n="psc_018.011"/>
begleitenden Jnstrumente u. s. w. Ein reiches Material stellt <lb n="psc_018.012"/>
die Anthropologie und Geographie hier zur Verfügung, und <lb n="psc_018.013"/>
über weite Gebiete hin finden sich analoge Erscheinungen <lb n="psc_018.014"/>
zum Beweise der überall gleichen Natur des Menschen. Nach <lb n="psc_018.015"/>
einem allgemeinen Gesetze darf wohl vermuthet werden, daß <lb n="psc_018.016"/>
ein ursprünglich roher ungeordneter formloser an den natürlichen <lb n="psc_018.017"/>
Schrei anknüpfender Gesang durch eine sehr strenge <lb n="psc_018.018"/>
Form verdrängt wurde, eine strenge Form, die wie ein starres <lb n="psc_018.019"/>
Gesetz über dem Texte stand. Diese individualisirte sich aber <lb n="psc_018.020"/>
dann nach und nach; und so entsteht wieder eine größere <lb n="psc_018.021"/>
Freiheit. So im Vortrag recitativischer Art, oder ans Recitativische <lb n="psc_018.022"/>
streifend eintönige Melodien, die zur Charakteristik <lb n="psc_018.023"/>
wenig Raum bieten. Die stärkste individuelle Freiheit des <lb n="psc_018.024"/>
Vortragenden hat natürlich der Sprechvortrag. Noch hat er <lb n="psc_018.025"/>
einiges mit dem Gesang gemein: das Tempo, denn bestimmte <lb n="psc_018.026"/>
Gedichte verlangen je nach der Stimmung ein verschiedenes <lb n="psc_018.027"/>
Tempo; die Stärke (s. Arist. Rhet. <hi rendition="#aq">III. 9 B</hi>); die Stimmlage,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0034] psc_018.001   Weit schwieriger nun ist die Frage: was gehört aus psc_018.002 dem Reich der ungebundenen Rede zu unserer Aufgabe? psc_018.003   Aber ehe wir dazu übergehen, müssen wir noch an die psc_018.004 vorher erhobene Forderung erinnern, sich Poesie, ehe sie im psc_018.005 Stillen gelesene Poesie wurde, in ihrer lebendigen Erscheinung psc_018.006 vorzustellen; d. h. eine Betrachtung wäre hier nöthig über den psc_018.007 Vortrag der gebundenen Rede bei den verschiedenen Völkern; psc_018.008 über die Gegensätze von Gesang, Recitativ und Sprechen psc_018.009 nicht bloß, sondern über die mancherlei Nuancen, die dabei psc_018.010 möglich sind; über die angewandten und nicht angewandten psc_018.011 begleitenden Jnstrumente u. s. w. Ein reiches Material stellt psc_018.012 die Anthropologie und Geographie hier zur Verfügung, und psc_018.013 über weite Gebiete hin finden sich analoge Erscheinungen psc_018.014 zum Beweise der überall gleichen Natur des Menschen. Nach psc_018.015 einem allgemeinen Gesetze darf wohl vermuthet werden, daß psc_018.016 ein ursprünglich roher ungeordneter formloser an den natürlichen psc_018.017 Schrei anknüpfender Gesang durch eine sehr strenge psc_018.018 Form verdrängt wurde, eine strenge Form, die wie ein starres psc_018.019 Gesetz über dem Texte stand. Diese individualisirte sich aber psc_018.020 dann nach und nach; und so entsteht wieder eine größere psc_018.021 Freiheit. So im Vortrag recitativischer Art, oder ans Recitativische psc_018.022 streifend eintönige Melodien, die zur Charakteristik psc_018.023 wenig Raum bieten. Die stärkste individuelle Freiheit des psc_018.024 Vortragenden hat natürlich der Sprechvortrag. Noch hat er psc_018.025 einiges mit dem Gesang gemein: das Tempo, denn bestimmte psc_018.026 Gedichte verlangen je nach der Stimmung ein verschiedenes psc_018.027 Tempo; die Stärke (s. Arist. Rhet. III. 9 B); die Stimmlage,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/34
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/34>, abgerufen am 27.11.2024.