Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_260.001 Aber es kommt hinzu: einen großen Mund vorzustellen psc_260.005 Oder: "rother Mund" -- das ist ohne Schwierigkeit vorzustellen. psc_260.010 psc_260.001 Aber es kommt hinzu: einen großen Mund vorzustellen psc_260.005 Oder: „rother Mund“ — das ist ohne Schwierigkeit vorzustellen. psc_260.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0276" n="260"/><lb n="psc_260.001"/> ohne Mühe vor, z. B. eine hohe oder auffallend niedrige Stirn <lb n="psc_260.002"/> — es muß nur nicht zu viel werden. Jedoch wenn man sich <lb n="psc_260.003"/> an die Haupttheile hält, so ist das nicht schwer aufzufassen.</p> <lb n="psc_260.004"/> <p> Aber es kommt hinzu: einen großen Mund vorzustellen <lb n="psc_260.005"/> macht mir keine Mühe; welcher Unterschied aber, wenn es <lb n="psc_260.006"/> heißt: „er verzog seinen großen Mund zu einem unschönen <lb n="psc_260.007"/> Lachen“ — durch diese Verbindung mit der Handlung prägt <lb n="psc_260.008"/> es sich ganz anders ein!</p> <lb n="psc_260.009"/> <p> Oder: „rother Mund“ — das ist ohne Schwierigkeit vorzustellen. <lb n="psc_260.010"/> Aber „ihr rother Mund, der so minniglich lachet“ <lb n="psc_260.011"/> bei Walther von der Vogelweide — um wie viel lebhafter <lb n="psc_260.012"/> wirkt dies! Hier schwebt jedem gleich der Kuß vor. Bewegung <lb n="psc_260.013"/> ist Zeichen des Lebens; hinter dem, was sich bewegt, <lb n="psc_260.014"/> setzt man Seele voraus. Was sich bewegt, erweckt etwa eine <lb n="psc_260.015"/> Art Sympathie. Es ist eine Erfahrung, daß in einem Landschaftsbild <lb n="psc_260.016"/> am meisten ein Vogel, der fliegt, ein Reiter, der <lb n="psc_260.017"/> reitet, auffällt. Der rothe Mund lächelnd, als Ausdruck der <lb n="psc_260.018"/> Liebenswürdigkeit, ist eine <hi rendition="#g">reichere</hi> Vorstellung, als der bloße <lb n="psc_260.019"/> rothe Mund: hier wirkt das Princip der ästhetischen Hilfen. <lb n="psc_260.020"/> Die bloße Versicherung der Liebenswürdigkeit würde eben <lb n="psc_260.021"/> auch nicht stark wirken ohne das sinnliche Bild. Beides zusammen <lb n="psc_260.022"/> unterstützt sich, das Körperliche und Psychologische, <lb n="psc_260.023"/> beide zusammen wirken mehr, als jedes für sich. Auf das <lb n="psc_260.024"/> erstere, Unterstützung des Körperlichen durchs Ethische, reducirt <lb n="psc_260.025"/> sich Martys Satz (S. 148): die Vorstellung vom Psychischen <lb n="psc_260.026"/> habe unter sonst gleichen Umständen mehr Werth, als die <lb n="psc_260.027"/> vom Physischen. Mit Psychischem ist eben immer stärkere <lb n="psc_260.028"/> Sympathie, reichere Anregung der Phantasie verbunden.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [260/0276]
psc_260.001
ohne Mühe vor, z. B. eine hohe oder auffallend niedrige Stirn psc_260.002
— es muß nur nicht zu viel werden. Jedoch wenn man sich psc_260.003
an die Haupttheile hält, so ist das nicht schwer aufzufassen.
psc_260.004
Aber es kommt hinzu: einen großen Mund vorzustellen psc_260.005
macht mir keine Mühe; welcher Unterschied aber, wenn es psc_260.006
heißt: „er verzog seinen großen Mund zu einem unschönen psc_260.007
Lachen“ — durch diese Verbindung mit der Handlung prägt psc_260.008
es sich ganz anders ein!
psc_260.009
Oder: „rother Mund“ — das ist ohne Schwierigkeit vorzustellen. psc_260.010
Aber „ihr rother Mund, der so minniglich lachet“ psc_260.011
bei Walther von der Vogelweide — um wie viel lebhafter psc_260.012
wirkt dies! Hier schwebt jedem gleich der Kuß vor. Bewegung psc_260.013
ist Zeichen des Lebens; hinter dem, was sich bewegt, psc_260.014
setzt man Seele voraus. Was sich bewegt, erweckt etwa eine psc_260.015
Art Sympathie. Es ist eine Erfahrung, daß in einem Landschaftsbild psc_260.016
am meisten ein Vogel, der fliegt, ein Reiter, der psc_260.017
reitet, auffällt. Der rothe Mund lächelnd, als Ausdruck der psc_260.018
Liebenswürdigkeit, ist eine reichere Vorstellung, als der bloße psc_260.019
rothe Mund: hier wirkt das Princip der ästhetischen Hilfen. psc_260.020
Die bloße Versicherung der Liebenswürdigkeit würde eben psc_260.021
auch nicht stark wirken ohne das sinnliche Bild. Beides zusammen psc_260.022
unterstützt sich, das Körperliche und Psychologische, psc_260.023
beide zusammen wirken mehr, als jedes für sich. Auf das psc_260.024
erstere, Unterstützung des Körperlichen durchs Ethische, reducirt psc_260.025
sich Martys Satz (S. 148): die Vorstellung vom Psychischen psc_260.026
habe unter sonst gleichen Umständen mehr Werth, als die psc_260.027
vom Physischen. Mit Psychischem ist eben immer stärkere psc_260.028
Sympathie, reichere Anregung der Phantasie verbunden.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |