Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_220.001 Jch sage nicht: die Poesie soll hohe Gefühle anregen, psc_220.004 Dies Gesetz beruht auf unserm Antheil: wir dehnen die psc_220.011 Jch darf bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam psc_220.024 Betrachtungen, wie sie uns bei der Frage nach dem Ursprung psc_220.001 Jch sage nicht: die Poesie soll hohe Gefühle anregen, psc_220.004 Dies Gesetz beruht auf unserm Antheil: wir dehnen die psc_220.011 Jch darf bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam psc_220.024 Betrachtungen, wie sie uns bei der Frage nach dem Ursprung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0236" n="220"/><lb n="psc_220.001"/> in solche, welche niedrige Gefühle in uns erregen, und in <lb n="psc_220.002"/> solche, welche hohe Gefühle in uns erregen.</p> <lb n="psc_220.003"/> <p> Jch sage nicht: die Poesie <hi rendition="#g">soll</hi> hohe Gefühle anregen, <lb n="psc_220.004"/> sondern ich sage dem Dichter: willst du die Anerkennung <lb n="psc_220.005"/> der Edlen, so zeige dich edel. Genügt es dir z. B. die <lb n="psc_220.006"/> niedere thierische Sinnlichkeit des Menschen anzuregen, gut! <lb n="psc_220.007"/> thue es. Aber sei darauf gefaßt, daß die Menschen dich <lb n="psc_220.008"/> betrachten als ein Werkzeug niedriger Lüste und dich nicht <lb n="psc_220.009"/> höher achten als eine käufliche Schöne.</p> <lb n="psc_220.010"/> <p> Dies Gesetz beruht auf unserm Antheil: wir dehnen die <lb n="psc_220.011"/> Wirkung des Stoffs auf den Autor aus. Wir denken uns <lb n="psc_220.012"/> in die Situation selbst hinein; führt uns der Dichter durch <lb n="psc_220.013"/> Cloaken, so stinkt's eben und wir fühlen uns beschmutzt, <lb n="psc_220.014"/> wenn wir auch für die Technik Bewunderung haben. Er <lb n="psc_220.015"/> sagt: „Jch will nur wahr sein.“ Nun denn, das ist ein <lb n="psc_220.016"/> ehernes Gesetz: wenn etwas angeregt wird, was wir selbst <lb n="psc_220.017"/> verachten, dann dehnt sich dies Gefühl aus auf den, von <lb n="psc_220.018"/> dem jene Anregung ausgeht. Da hilft all sein Reden nicht, <lb n="psc_220.019"/> wenn er uns Häßliches vorführt. Der Dichter hat danach <lb n="psc_220.020"/> die Wahl. Der weise Dichter wird mindestens die Gegenstände <lb n="psc_220.021"/> in Contrast bringen und so unsern Blick auf die <lb n="psc_220.022"/> Totalität lenken.</p> <lb n="psc_220.023"/> <p> Jch darf bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam <lb n="psc_220.024"/> machen, wie viel wirksamer gerade eine derartige empirische <lb n="psc_220.025"/> Poetik, eine einfache Feststellung der Thatsachen einer legislativen <lb n="psc_220.026"/> Poetik gegenübersteht, weil sie deutlicher ist und <lb n="psc_220.027"/> die Folgen klarer macht.</p> <lb n="psc_220.028"/> <p> Betrachtungen, wie sie uns bei der Frage nach dem Ursprung </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [220/0236]
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in solche, welche niedrige Gefühle in uns erregen, und in psc_220.002
solche, welche hohe Gefühle in uns erregen.
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Jch sage nicht: die Poesie soll hohe Gefühle anregen, psc_220.004
sondern ich sage dem Dichter: willst du die Anerkennung psc_220.005
der Edlen, so zeige dich edel. Genügt es dir z. B. die psc_220.006
niedere thierische Sinnlichkeit des Menschen anzuregen, gut! psc_220.007
thue es. Aber sei darauf gefaßt, daß die Menschen dich psc_220.008
betrachten als ein Werkzeug niedriger Lüste und dich nicht psc_220.009
höher achten als eine käufliche Schöne.
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Dies Gesetz beruht auf unserm Antheil: wir dehnen die psc_220.011
Wirkung des Stoffs auf den Autor aus. Wir denken uns psc_220.012
in die Situation selbst hinein; führt uns der Dichter durch psc_220.013
Cloaken, so stinkt's eben und wir fühlen uns beschmutzt, psc_220.014
wenn wir auch für die Technik Bewunderung haben. Er psc_220.015
sagt: „Jch will nur wahr sein.“ Nun denn, das ist ein psc_220.016
ehernes Gesetz: wenn etwas angeregt wird, was wir selbst psc_220.017
verachten, dann dehnt sich dies Gefühl aus auf den, von psc_220.018
dem jene Anregung ausgeht. Da hilft all sein Reden nicht, psc_220.019
wenn er uns Häßliches vorführt. Der Dichter hat danach psc_220.020
die Wahl. Der weise Dichter wird mindestens die Gegenstände psc_220.021
in Contrast bringen und so unsern Blick auf die psc_220.022
Totalität lenken.
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Jch darf bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam psc_220.024
machen, wie viel wirksamer gerade eine derartige empirische psc_220.025
Poetik, eine einfache Feststellung der Thatsachen einer legislativen psc_220.026
Poetik gegenübersteht, weil sie deutlicher ist und psc_220.027
die Folgen klarer macht.
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Betrachtungen, wie sie uns bei der Frage nach dem Ursprung
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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