Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_207.001 Über die Natur der Mythologie und ihre Brauchbarkeit psc_207.017 psc_207.001 Über die Natur der Mythologie und ihre Brauchbarkeit psc_207.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0223" n="207"/><lb n="psc_207.001"/> ist ganz in diesem Zwielicht darzustellen: Wallensteins <lb n="psc_207.002"/> astrologischer Wahn; so auch prophetische Träume — heute besser <lb n="psc_207.003"/> mit Betonung der Zweideutigkeit; und ebenso Geistererscheinungen, <lb n="psc_207.004"/> weil als subjective Phänomene gedacht (vgl. Lessing <lb n="psc_207.005"/> in der „Hamb. Dramaturgie“). Aber auch namentlich die oft <lb n="psc_207.006"/> furchtbare, oft lächerliche Wirkung der Zufälle. Freilich ist es <lb n="psc_207.007"/> eine große Frage, ob nicht doch Zufall die Völker bestimmt, <lb n="psc_207.008"/> oder ob die Zufälle sich gegenseitig corrigiren. Jedenfalls <lb n="psc_207.009"/> sind die Zufälle ein keineswegs aus der Dichtung auszuscheidendes <lb n="psc_207.010"/> Element. Ein „zu früh“, ein „zu spät“, wie schrecklich <lb n="psc_207.011"/> kann es wirken! Ein entscheidender Entschluß ist gefaßt <lb n="psc_207.012"/> auf bekannte Factoren hin; kaum ist er gefaßt, tritt ein neues <lb n="psc_207.013"/> Element, ein neuer Factor ein; wäre der wenige Minuten <lb n="psc_207.014"/> früher eingetreten, so wäre der Entschluß nicht gefaßt und <lb n="psc_207.015"/> wären alle seine Consequenzen nicht eingetreten.</p> <lb n="psc_207.016"/> <p> Über die Natur der Mythologie und ihre Brauchbarkeit <lb n="psc_207.017"/> für poetische Zwecke pflegt in allen Poetiken gehandelt zu <lb n="psc_207.018"/> werden. Die alte Mythologie in der neueren Dichtung ergiebt <lb n="psc_207.019"/> einen Mittelzustand: man glaubt nicht mehr an diese <lb n="psc_207.020"/> Götter, macht sie aber zu allegorischen Fictionen: Phoebus — <lb n="psc_207.021"/> Sonne, Poseidon — Meer. So hat man einfache Personificationen, <lb n="psc_207.022"/> die aber auch etwas platt sind. Dagegen herrscht <lb n="psc_207.023"/> innere Vertiefung z. B. in Goethes „Römischen Elegien“ und <lb n="psc_207.024"/> „Achilleis“. Der Hauptvortheil dabei ist, daß dies uns bekannte <lb n="psc_207.025"/> Charaktere sind, an die sich feste Vorstellungen <lb n="psc_207.026"/> anknüpfen. Deshalb war z. B. Klopstocks Mythologie unbrauchbar, <lb n="psc_207.027"/> denn er hatte die eddischen Götter eingesetzt, und <lb n="psc_207.028"/> weil diese unbekannt waren, thaten sie keine Wirkung.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0223]
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ist ganz in diesem Zwielicht darzustellen: Wallensteins psc_207.002
astrologischer Wahn; so auch prophetische Träume — heute besser psc_207.003
mit Betonung der Zweideutigkeit; und ebenso Geistererscheinungen, psc_207.004
weil als subjective Phänomene gedacht (vgl. Lessing psc_207.005
in der „Hamb. Dramaturgie“). Aber auch namentlich die oft psc_207.006
furchtbare, oft lächerliche Wirkung der Zufälle. Freilich ist es psc_207.007
eine große Frage, ob nicht doch Zufall die Völker bestimmt, psc_207.008
oder ob die Zufälle sich gegenseitig corrigiren. Jedenfalls psc_207.009
sind die Zufälle ein keineswegs aus der Dichtung auszuscheidendes psc_207.010
Element. Ein „zu früh“, ein „zu spät“, wie schrecklich psc_207.011
kann es wirken! Ein entscheidender Entschluß ist gefaßt psc_207.012
auf bekannte Factoren hin; kaum ist er gefaßt, tritt ein neues psc_207.013
Element, ein neuer Factor ein; wäre der wenige Minuten psc_207.014
früher eingetreten, so wäre der Entschluß nicht gefaßt und psc_207.015
wären alle seine Consequenzen nicht eingetreten.
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Über die Natur der Mythologie und ihre Brauchbarkeit psc_207.017
für poetische Zwecke pflegt in allen Poetiken gehandelt zu psc_207.018
werden. Die alte Mythologie in der neueren Dichtung ergiebt psc_207.019
einen Mittelzustand: man glaubt nicht mehr an diese psc_207.020
Götter, macht sie aber zu allegorischen Fictionen: Phoebus — psc_207.021
Sonne, Poseidon — Meer. So hat man einfache Personificationen, psc_207.022
die aber auch etwas platt sind. Dagegen herrscht psc_207.023
innere Vertiefung z. B. in Goethes „Römischen Elegien“ und psc_207.024
„Achilleis“. Der Hauptvortheil dabei ist, daß dies uns bekannte psc_207.025
Charaktere sind, an die sich feste Vorstellungen psc_207.026
anknüpfen. Deshalb war z. B. Klopstocks Mythologie unbrauchbar, psc_207.027
denn er hatte die eddischen Götter eingesetzt, und psc_207.028
weil diese unbekannt waren, thaten sie keine Wirkung.
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