Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
psc_172.001

Die ersten Angaben sind sehr kindlich. Plato verlegt psc_172.002
den Sitz des dichterischen Vermögens in die Leber; Aristoteles psc_172.003
leitet das Genie aus einer besonderen Wärme der schwarzen psc_172.004
Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Melancholiker psc_172.005
(Vischer 2, 2, S. 333).

psc_172.006

Vischer selbst sagt: "So viel ist gewiß, daß die phantasievollen psc_172.007
Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung psc_172.008
sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund psc_172.009
immerhin in einer erregbaren Disposition der Organe suchen psc_172.010
müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie reizen zur psc_172.011
Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihrerseits psc_172.012
schnell den Magen zu afficiren." Vischer fügt gleich psc_172.013
sehr richtig hinzu: "Schreckhaft sind sie allerdings, weil psc_172.014
ihnen die Einbildungskraft rasch das Drohende verdoppelt .. psc_172.015
die schnelle ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Einbildung psc_172.016
muß aber durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens psc_172.017
vermittelt sein."

psc_172.018

Daß das Genie melancholisch sei, führt Schopenhauer psc_172.019
näher aus und sucht es mit jenen seinen Grundgedanken zu psc_172.020
vermitteln. Mit großem Recht zieht er stets Goethes Tasso psc_172.021
herbei -- in der That die vollendetste, eingehendste, reichste psc_172.022
Schilderung des Dichters, sofern er zur Melancholie, Hypochondrie psc_172.023
neigt und eine hochgradige Reizbarkeit kundgiebt. psc_172.024
Aber Schopenhauer, der fortwährend auf Goethe hindeutet, psc_172.025
sollte sich doch auch klar gemacht haben, daß Goethe zwar zu psc_172.026
gewissen Zeiten seinem Tasso geglichen haben mag, aber nur psc_172.027
sehr annähernd, und daß Goethe selbst einen ganz anderen psc_172.028
Typus des Dichters repräsentirt, durchaus nicht einen

psc_172.001

  Die ersten Angaben sind sehr kindlich. Plato verlegt psc_172.002
den Sitz des dichterischen Vermögens in die Leber; Aristoteles psc_172.003
leitet das Genie aus einer besonderen Wärme der schwarzen psc_172.004
Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Melancholiker psc_172.005
(Vischer 2, 2, S. 333).

psc_172.006

  Vischer selbst sagt: „So viel ist gewiß, daß die phantasievollen psc_172.007
Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung psc_172.008
sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund psc_172.009
immerhin in einer erregbaren Disposition der Organe suchen psc_172.010
müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie reizen zur psc_172.011
Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihrerseits psc_172.012
schnell den Magen zu afficiren.“ Vischer fügt gleich psc_172.013
sehr richtig hinzu: „Schreckhaft sind sie allerdings, weil psc_172.014
ihnen die Einbildungskraft rasch das Drohende verdoppelt .. psc_172.015
die schnelle ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Einbildung psc_172.016
muß aber durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens psc_172.017
vermittelt sein.“

psc_172.018

  Daß das Genie melancholisch sei, führt Schopenhauer psc_172.019
näher aus und sucht es mit jenen seinen Grundgedanken zu psc_172.020
vermitteln. Mit großem Recht zieht er stets Goethes Tasso psc_172.021
herbei — in der That die vollendetste, eingehendste, reichste psc_172.022
Schilderung des Dichters, sofern er zur Melancholie, Hypochondrie psc_172.023
neigt und eine hochgradige Reizbarkeit kundgiebt. psc_172.024
Aber Schopenhauer, der fortwährend auf Goethe hindeutet, psc_172.025
sollte sich doch auch klar gemacht haben, daß Goethe zwar zu psc_172.026
gewissen Zeiten seinem Tasso geglichen haben mag, aber nur psc_172.027
sehr annähernd, und daß Goethe selbst einen ganz anderen psc_172.028
Typus des Dichters repräsentirt, durchaus nicht einen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0188" n="172"/>
            <lb n="psc_172.001"/>
            <p>  Die ersten Angaben sind sehr kindlich. Plato verlegt <lb n="psc_172.002"/>
den Sitz des dichterischen Vermögens in die Leber; Aristoteles <lb n="psc_172.003"/>
leitet das Genie aus einer besonderen Wärme der schwarzen <lb n="psc_172.004"/>
Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Melancholiker <lb n="psc_172.005"/>
(Vischer 2, 2, S. 333).</p>
            <lb n="psc_172.006"/>
            <p>  Vischer selbst sagt: &#x201E;So viel ist gewiß, daß die phantasievollen <lb n="psc_172.007"/>
Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung <lb n="psc_172.008"/>
sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund <lb n="psc_172.009"/>
immerhin in einer erregbaren Disposition der Organe suchen <lb n="psc_172.010"/>
müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie reizen zur <lb n="psc_172.011"/>
Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihrerseits <lb n="psc_172.012"/>
schnell den Magen zu afficiren.&#x201C; Vischer fügt gleich <lb n="psc_172.013"/>
sehr richtig hinzu: &#x201E;Schreckhaft sind sie allerdings, weil <lb n="psc_172.014"/>
ihnen die Einbildungskraft rasch das Drohende verdoppelt .. <lb n="psc_172.015"/>
die schnelle ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Einbildung <lb n="psc_172.016"/>
muß aber durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens <lb n="psc_172.017"/>
vermittelt sein.&#x201C;</p>
            <lb n="psc_172.018"/>
            <p>  Daß das Genie melancholisch sei, führt Schopenhauer <lb n="psc_172.019"/>
näher aus und sucht es mit jenen seinen Grundgedanken zu <lb n="psc_172.020"/>
vermitteln. Mit großem Recht zieht er stets Goethes Tasso <lb n="psc_172.021"/>
herbei &#x2014; in der That die vollendetste, eingehendste, reichste <lb n="psc_172.022"/>
Schilderung des Dichters, sofern er zur Melancholie, Hypochondrie <lb n="psc_172.023"/>
neigt und eine hochgradige Reizbarkeit kundgiebt. <lb n="psc_172.024"/>
Aber Schopenhauer, der fortwährend auf Goethe hindeutet, <lb n="psc_172.025"/>
sollte sich doch auch klar gemacht haben, daß Goethe zwar zu <lb n="psc_172.026"/>
gewissen Zeiten seinem Tasso geglichen haben mag, aber nur <lb n="psc_172.027"/>
sehr annähernd, und daß Goethe selbst einen ganz anderen <lb n="psc_172.028"/>
Typus des Dichters repräsentirt, durchaus nicht einen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0188] psc_172.001   Die ersten Angaben sind sehr kindlich. Plato verlegt psc_172.002 den Sitz des dichterischen Vermögens in die Leber; Aristoteles psc_172.003 leitet das Genie aus einer besonderen Wärme der schwarzen psc_172.004 Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Melancholiker psc_172.005 (Vischer 2, 2, S. 333). psc_172.006   Vischer selbst sagt: „So viel ist gewiß, daß die phantasievollen psc_172.007 Naturen launisch, reizbar, Kinder der Stimmung psc_172.008 sind, und man wird den nächsten physiologischen Grund psc_172.009 immerhin in einer erregbaren Disposition der Organe suchen psc_172.010 müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie reizen zur psc_172.011 Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihrerseits psc_172.012 schnell den Magen zu afficiren.“ Vischer fügt gleich psc_172.013 sehr richtig hinzu: „Schreckhaft sind sie allerdings, weil psc_172.014 ihnen die Einbildungskraft rasch das Drohende verdoppelt .. psc_172.015 die schnelle ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Einbildung psc_172.016 muß aber durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens psc_172.017 vermittelt sein.“ psc_172.018   Daß das Genie melancholisch sei, führt Schopenhauer psc_172.019 näher aus und sucht es mit jenen seinen Grundgedanken zu psc_172.020 vermitteln. Mit großem Recht zieht er stets Goethes Tasso psc_172.021 herbei — in der That die vollendetste, eingehendste, reichste psc_172.022 Schilderung des Dichters, sofern er zur Melancholie, Hypochondrie psc_172.023 neigt und eine hochgradige Reizbarkeit kundgiebt. psc_172.024 Aber Schopenhauer, der fortwährend auf Goethe hindeutet, psc_172.025 sollte sich doch auch klar gemacht haben, daß Goethe zwar zu psc_172.026 gewissen Zeiten seinem Tasso geglichen haben mag, aber nur psc_172.027 sehr annähernd, und daß Goethe selbst einen ganz anderen psc_172.028 Typus des Dichters repräsentirt, durchaus nicht einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/188
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/188>, abgerufen am 24.11.2024.