Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_002.001 Jedenfalls bezweifelt kein Mensch, daß die Poesie ein psc_002.004 Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle psc_002.011 Betrachten wir diese beiden Sätze näher, und beginnen psc_002.014 psc_002.015 A. Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung psc_002.016 psc_002.017der Sprache. Sie werden das ohne weiteres zugeben; denn Sie psc_002.018 psc_002.001 Jedenfalls bezweifelt kein Mensch, daß die Poesie ein psc_002.004 Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle psc_002.011 Betrachten wir diese beiden Sätze näher, und beginnen psc_002.014 psc_002.015 A. Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung psc_002.016 psc_002.017der Sprache. Sie werden das ohne weiteres zugeben; denn Sie psc_002.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0018" n="2"/><lb n="psc_002.001"/> trotzdem aber rechnen wir doch unbestritten zur Poesie auch <lb n="psc_002.002"/> den prosaischen Roman. Wie grenzen wir ab? —</p> <lb n="psc_002.003"/> <p> Jedenfalls bezweifelt kein Mensch, daß die Poesie ein <lb n="psc_002.004"/> Verhältniß zur Sprache hat, daß auf dem Gebiet der Anwendung <lb n="psc_002.005"/> der Sprache auch ihr Gebiet zu finden sein muß. <lb n="psc_002.006"/> Und zwar vermuthlich auf dem Gebiete der kunstmäßigen <lb n="psc_002.007"/> Anwendung der Sprache, da man doch die Poesie zu den <lb n="psc_002.008"/> Künsten zu zählen pflegt, wenn auch der eigentliche Sinn <lb n="psc_002.009"/> des Wortes „kunstmäßig“ hier noch dahingestellt bleiben soll.</p> <lb n="psc_002.010"/> <p> Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle <lb n="psc_002.011"/> Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache, und nicht <lb n="psc_002.012"/> alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie.</p> <lb n="psc_002.013"/> <p> Betrachten wir diese beiden Sätze näher, und beginnen <lb n="psc_002.014"/> wir mit dem ersten.</p> <div n="3"> <lb n="psc_002.015"/> <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">A</hi>. <hi rendition="#g">Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung <lb n="psc_002.016"/> der Sprache.</hi></hi> </head> <lb n="psc_002.017"/> <p> Sie werden das ohne weiteres zugeben; denn Sie <lb n="psc_002.018"/> werden mit mir einverstanden sein, daß die Erfindung eines <lb n="psc_002.019"/> Ballets, d. h. einer zusammenhängenden dramatischen Handlung, <lb n="psc_002.020"/> bei welcher nicht gesprochen wird, ein Act poetischer <lb n="psc_002.021"/> Erfindung ist. Der Dichter wird zwar auch dabei die <lb n="psc_002.022"/> Sprache anwenden: er wird den Darstellern mündlich den <lb n="psc_002.023"/> Gang ihrer Action vorzeichnen, oder er wird eine schriftliche <lb n="psc_002.024"/> Jnstruction ausarbeiten — aber das ist gewiß kein kunstmäßiger <lb n="psc_002.025"/> Gebrauch der Sprache, sondern die Sprache ist hier <lb n="psc_002.026"/> bloßes Verständigungsmittel. Das Kunstwerk entsteht erst, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0018]
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trotzdem aber rechnen wir doch unbestritten zur Poesie auch psc_002.002
den prosaischen Roman. Wie grenzen wir ab? —
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Jedenfalls bezweifelt kein Mensch, daß die Poesie ein psc_002.004
Verhältniß zur Sprache hat, daß auf dem Gebiet der Anwendung psc_002.005
der Sprache auch ihr Gebiet zu finden sein muß. psc_002.006
Und zwar vermuthlich auf dem Gebiete der kunstmäßigen psc_002.007
Anwendung der Sprache, da man doch die Poesie zu den psc_002.008
Künsten zu zählen pflegt, wenn auch der eigentliche Sinn psc_002.009
des Wortes „kunstmäßig“ hier noch dahingestellt bleiben soll.
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Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle psc_002.011
Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache, und nicht psc_002.012
alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie.
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Betrachten wir diese beiden Sätze näher, und beginnen psc_002.014
wir mit dem ersten.
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A. Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung psc_002.016
der Sprache. psc_002.017
Sie werden das ohne weiteres zugeben; denn Sie psc_002.018
werden mit mir einverstanden sein, daß die Erfindung eines psc_002.019
Ballets, d. h. einer zusammenhängenden dramatischen Handlung, psc_002.020
bei welcher nicht gesprochen wird, ein Act poetischer psc_002.021
Erfindung ist. Der Dichter wird zwar auch dabei die psc_002.022
Sprache anwenden: er wird den Darstellern mündlich den psc_002.023
Gang ihrer Action vorzeichnen, oder er wird eine schriftliche psc_002.024
Jnstruction ausarbeiten — aber das ist gewiß kein kunstmäßiger psc_002.025
Gebrauch der Sprache, sondern die Sprache ist hier psc_002.026
bloßes Verständigungsmittel. Das Kunstwerk entsteht erst,
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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