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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Ansicht des Homer hier gänzlich dahingestellt, aber ich will durch
den aufgestellten Satz von der Mythologie dasselbe, was Wolf vom
Homer, behaupten. Die Mythologie und Homer sind eins, und Homer
lag in der ersten Dichtung der Mythologie schon fertig involvirt, gleich-
sam potentialiter vorhanden. Da Homer, wenn ich so sagen darf,
geistig -- im Urbild -- schon prädeterminirt, und das Gewebe seiner
Dichtungen mit dem der Mythologie schon gewoben war, so ist be-
greiflich, wie Dichter, aus deren Gesängen Homer zusammengesetzt
wäre, unabhängig voneinander jeder in das Ganze eingreifen konnten,
ohne seine Harmonie aufzuheben, oder aus der ersten Identität her-
auszugehen. Es war wirklich ein schon -- wenn gleich nicht empirisch
-- vorhandenes Gedicht, was sie recitirten. Der Ursprung der My-
thologie und der des Homer fallen also zusammen, daher es begreiflich
ist, wie der Ursprung beider schon den frühesten hellenischen Historikern
gleich verborgen ist, und schon Herodotos die Sache einseitig vorstellt,
nämlich Homeros habe den Hellenen zuerst die Göttergeschichte gemacht.

Die Alten selbst bezeichnen die Mythologie und, da diese ihnen
mit dem Homer in eins zusammenfällt, die homerischen Dichtungen
als die gemeinsame Wurzel der Poesie, der Geschichte und Philosophie.
Für die Poesie ist sie der Urstoff, aus dem alles hervorging, der Ocean,
um ein Bild der Alten zu gebrauchen, aus dem alle Ströme ausfließen,
wie sie alle in ihn zurückkehren. Erst allmählich verliert sich der my-
thische Stoff in den historischen; man könnte sagen, erst wie die Idee
des Unendlichen hervortritt und die Beziehung auf das Schicksal ent-
stehen kann (Herodot). In der Zwischenperiode muß, weil das Un-
endliche, noch ganz dem Stoff verbunden, selbst stoffartig wirkt, jener
in der Mythologie ausgestreute göttliche Same noch lange in wunderba-
ren großen Ereignissen wuchern, wie die des heroischen Zeitalters sind.
Die Gesetze gemeiner Erfahrung sind noch nicht eingetreten, noch immer
concentriren sich ganze volle Massen von Erscheinungen auf einzelne
große Gestalten, wie auch in der Ilias geschieht.

Da die Mythologie nichts anderes als die urbildliche Welt selbst
ist, die erste allgemeine Anschauung des Universums, so war sie Grundlage

Anſicht des Homer hier gänzlich dahingeſtellt, aber ich will durch
den aufgeſtellten Satz von der Mythologie daſſelbe, was Wolf vom
Homer, behaupten. Die Mythologie und Homer ſind eins, und Homer
lag in der erſten Dichtung der Mythologie ſchon fertig involvirt, gleich-
ſam potentialiter vorhanden. Da Homer, wenn ich ſo ſagen darf,
geiſtig — im Urbild — ſchon prädeterminirt, und das Gewebe ſeiner
Dichtungen mit dem der Mythologie ſchon gewoben war, ſo iſt be-
greiflich, wie Dichter, aus deren Geſängen Homer zuſammengeſetzt
wäre, unabhängig voneinander jeder in das Ganze eingreifen konnten,
ohne ſeine Harmonie aufzuheben, oder aus der erſten Identität her-
auszugehen. Es war wirklich ein ſchon — wenn gleich nicht empiriſch
— vorhandenes Gedicht, was ſie recitirten. Der Urſprung der My-
thologie und der des Homer fallen alſo zuſammen, daher es begreiflich
iſt, wie der Urſprung beider ſchon den früheſten helleniſchen Hiſtorikern
gleich verborgen iſt, und ſchon Herodotos die Sache einſeitig vorſtellt,
nämlich Homeros habe den Hellenen zuerſt die Göttergeſchichte gemacht.

Die Alten ſelbſt bezeichnen die Mythologie und, da dieſe ihnen
mit dem Homer in eins zuſammenfällt, die homeriſchen Dichtungen
als die gemeinſame Wurzel der Poeſie, der Geſchichte und Philoſophie.
Für die Poeſie iſt ſie der Urſtoff, aus dem alles hervorging, der Ocean,
um ein Bild der Alten zu gebrauchen, aus dem alle Ströme ausfließen,
wie ſie alle in ihn zurückkehren. Erſt allmählich verliert ſich der my-
thiſche Stoff in den hiſtoriſchen; man könnte ſagen, erſt wie die Idee
des Unendlichen hervortritt und die Beziehung auf das Schickſal ent-
ſtehen kann (Herodot). In der Zwiſchenperiode muß, weil das Un-
endliche, noch ganz dem Stoff verbunden, ſelbſt ſtoffartig wirkt, jener
in der Mythologie ausgeſtreute göttliche Same noch lange in wunderba-
ren großen Ereigniſſen wuchern, wie die des heroiſchen Zeitalters ſind.
Die Geſetze gemeiner Erfahrung ſind noch nicht eingetreten, noch immer
concentriren ſich ganze volle Maſſen von Erſcheinungen auf einzelne
große Geſtalten, wie auch in der Ilias geſchieht.

Da die Mythologie nichts anderes als die urbildliche Welt ſelbſt
iſt, die erſte allgemeine Anſchauung des Univerſums, ſo war ſie Grundlage

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[416/0092] Anſicht des Homer hier gänzlich dahingeſtellt, aber ich will durch den aufgeſtellten Satz von der Mythologie daſſelbe, was Wolf vom Homer, behaupten. Die Mythologie und Homer ſind eins, und Homer lag in der erſten Dichtung der Mythologie ſchon fertig involvirt, gleich- ſam potentialiter vorhanden. Da Homer, wenn ich ſo ſagen darf, geiſtig — im Urbild — ſchon prädeterminirt, und das Gewebe ſeiner Dichtungen mit dem der Mythologie ſchon gewoben war, ſo iſt be- greiflich, wie Dichter, aus deren Geſängen Homer zuſammengeſetzt wäre, unabhängig voneinander jeder in das Ganze eingreifen konnten, ohne ſeine Harmonie aufzuheben, oder aus der erſten Identität her- auszugehen. Es war wirklich ein ſchon — wenn gleich nicht empiriſch — vorhandenes Gedicht, was ſie recitirten. Der Urſprung der My- thologie und der des Homer fallen alſo zuſammen, daher es begreiflich iſt, wie der Urſprung beider ſchon den früheſten helleniſchen Hiſtorikern gleich verborgen iſt, und ſchon Herodotos die Sache einſeitig vorſtellt, nämlich Homeros habe den Hellenen zuerſt die Göttergeſchichte gemacht. Die Alten ſelbſt bezeichnen die Mythologie und, da dieſe ihnen mit dem Homer in eins zuſammenfällt, die homeriſchen Dichtungen als die gemeinſame Wurzel der Poeſie, der Geſchichte und Philoſophie. Für die Poeſie iſt ſie der Urſtoff, aus dem alles hervorging, der Ocean, um ein Bild der Alten zu gebrauchen, aus dem alle Ströme ausfließen, wie ſie alle in ihn zurückkehren. Erſt allmählich verliert ſich der my- thiſche Stoff in den hiſtoriſchen; man könnte ſagen, erſt wie die Idee des Unendlichen hervortritt und die Beziehung auf das Schickſal ent- ſtehen kann (Herodot). In der Zwiſchenperiode muß, weil das Un- endliche, noch ganz dem Stoff verbunden, ſelbſt ſtoffartig wirkt, jener in der Mythologie ausgeſtreute göttliche Same noch lange in wunderba- ren großen Ereigniſſen wuchern, wie die des heroiſchen Zeitalters ſind. Die Geſetze gemeiner Erfahrung ſind noch nicht eingetreten, noch immer concentriren ſich ganze volle Maſſen von Erſcheinungen auf einzelne große Geſtalten, wie auch in der Ilias geſchieht. Da die Mythologie nichts anderes als die urbildliche Welt ſelbſt iſt, die erſte allgemeine Anſchauung des Univerſums, ſo war ſie Grundlage

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/92>, abgerufen am 25.11.2024.