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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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urbildliche Welt selbst -- hat die Mythologie allgemeine Realität für
alle Zeiten. Die wunderbare Verflechtung, die in diesem göttlichen
Ganzen stattfindet, läßt uns allerdings erwarten, daß auch Züge aus
der Geschichte darein spielen. Aber wer kann in diesem lebendigen
Ganzen das Einzelne sondern, ohne den Zusammenhang des Ganzen
zu zerstören? Wie diese Dichtungen gleichsam als ein zarter Duft die
Natur durch sich erblicken lassen, so wirken sie auch als ein Nebel,
durch den wir die entfernte Zeit der Urwelt und einzelne große Gestal-
ten erkennen, die sich auf ihrem dunklen Hintergrund bewegen. Alles
andere überzeugt uns, daß das gegenwärtige Menschengeschlecht ein
Menschengeschlecht aus der zweiten Hand ist, daß also ohne Zweifel,
was in den Dichtungen der Mythologie lebt, einst wirklich existirt hat,
und ein Göttergeschlecht dem gegenwärtigen der Menschen vorangegangen
ist; aber die mythologischen Dichtungen selbst sind doch von einer solchen
Wahrheit völlig unabhängig und ganz allein in sich selbst zu betrachten.
(Sie werden sich nun ferner auch nicht wundern, wenn ich von jenen
beliebten historisch-psychologischen Erklärungen der Mythologie keinen
Gebrauch gemacht habe, nach welchen der Ursprung der Mythologie in
den Bestrebungen roher Natursöhne gesucht wird, alles zu personificiren
und zu beleben, ungefähr wie es der amerikanische Wilde auch thut,
wenn er die Hand in einen Topf siedenden Wassers steckt und glaubt,
daß ein Thier darin sey, das ihn gebissen habe. Von dieser rohen
Natursprache wäre die Mythologie, nicht dem Princip, sondern nur dem
Grad der Ausführung nach verschieden. Nach andern ist sie ein bloßer
Nothbehelf wegen der Armuth der Bezeichnungen oder Unwissenheit der
Ursachen, z. B. der Gott des Donners, des Feuers u. s. w.).

§. 40. Der Charakter der wahren Mythologie ist der
der Universalität, der Unendlichkeit
. -- Denn sie ist nach
§. 34 möglich in sich selbst nur, inwiefern sie bis zur Totalität ausge-
bildet und das urbildliche Universum selbst darstellt. In diesem aber
sind nicht nur alle Dinge, sondern auch alle Verhältnisse der Dinge
als absolute Möglichkeiten zumal; dasselbe muß also auch in der My-
thologie der Fall seyn: insofern Universalität. Da aber in dem

urbildliche Welt ſelbſt — hat die Mythologie allgemeine Realität für
alle Zeiten. Die wunderbare Verflechtung, die in dieſem göttlichen
Ganzen ſtattfindet, läßt uns allerdings erwarten, daß auch Züge aus
der Geſchichte darein ſpielen. Aber wer kann in dieſem lebendigen
Ganzen das Einzelne ſondern, ohne den Zuſammenhang des Ganzen
zu zerſtören? Wie dieſe Dichtungen gleichſam als ein zarter Duft die
Natur durch ſich erblicken laſſen, ſo wirken ſie auch als ein Nebel,
durch den wir die entfernte Zeit der Urwelt und einzelne große Geſtal-
ten erkennen, die ſich auf ihrem dunklen Hintergrund bewegen. Alles
andere überzeugt uns, daß das gegenwärtige Menſchengeſchlecht ein
Menſchengeſchlecht aus der zweiten Hand iſt, daß alſo ohne Zweifel,
was in den Dichtungen der Mythologie lebt, einſt wirklich exiſtirt hat,
und ein Göttergeſchlecht dem gegenwärtigen der Menſchen vorangegangen
iſt; aber die mythologiſchen Dichtungen ſelbſt ſind doch von einer ſolchen
Wahrheit völlig unabhängig und ganz allein in ſich ſelbſt zu betrachten.
(Sie werden ſich nun ferner auch nicht wundern, wenn ich von jenen
beliebten hiſtoriſch-pſychologiſchen Erklärungen der Mythologie keinen
Gebrauch gemacht habe, nach welchen der Urſprung der Mythologie in
den Beſtrebungen roher Naturſöhne geſucht wird, alles zu perſonificiren
und zu beleben, ungefähr wie es der amerikaniſche Wilde auch thut,
wenn er die Hand in einen Topf ſiedenden Waſſers ſteckt und glaubt,
daß ein Thier darin ſey, das ihn gebiſſen habe. Von dieſer rohen
Naturſprache wäre die Mythologie, nicht dem Princip, ſondern nur dem
Grad der Ausführung nach verſchieden. Nach andern iſt ſie ein bloßer
Nothbehelf wegen der Armuth der Bezeichnungen oder Unwiſſenheit der
Urſachen, z. B. der Gott des Donners, des Feuers u. ſ. w.).

§. 40. Der Charakter der wahren Mythologie iſt der
der Univerſalität, der Unendlichkeit
. — Denn ſie iſt nach
§. 34 möglich in ſich ſelbſt nur, inwiefern ſie bis zur Totalität ausge-
bildet und das urbildliche Univerſum ſelbſt darſtellt. In dieſem aber
ſind nicht nur alle Dinge, ſondern auch alle Verhältniſſe der Dinge
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[413/0089] urbildliche Welt ſelbſt — hat die Mythologie allgemeine Realität für alle Zeiten. Die wunderbare Verflechtung, die in dieſem göttlichen Ganzen ſtattfindet, läßt uns allerdings erwarten, daß auch Züge aus der Geſchichte darein ſpielen. Aber wer kann in dieſem lebendigen Ganzen das Einzelne ſondern, ohne den Zuſammenhang des Ganzen zu zerſtören? Wie dieſe Dichtungen gleichſam als ein zarter Duft die Natur durch ſich erblicken laſſen, ſo wirken ſie auch als ein Nebel, durch den wir die entfernte Zeit der Urwelt und einzelne große Geſtal- ten erkennen, die ſich auf ihrem dunklen Hintergrund bewegen. Alles andere überzeugt uns, daß das gegenwärtige Menſchengeſchlecht ein Menſchengeſchlecht aus der zweiten Hand iſt, daß alſo ohne Zweifel, was in den Dichtungen der Mythologie lebt, einſt wirklich exiſtirt hat, und ein Göttergeſchlecht dem gegenwärtigen der Menſchen vorangegangen iſt; aber die mythologiſchen Dichtungen ſelbſt ſind doch von einer ſolchen Wahrheit völlig unabhängig und ganz allein in ſich ſelbſt zu betrachten. (Sie werden ſich nun ferner auch nicht wundern, wenn ich von jenen beliebten hiſtoriſch-pſychologiſchen Erklärungen der Mythologie keinen Gebrauch gemacht habe, nach welchen der Urſprung der Mythologie in den Beſtrebungen roher Naturſöhne geſucht wird, alles zu perſonificiren und zu beleben, ungefähr wie es der amerikaniſche Wilde auch thut, wenn er die Hand in einen Topf ſiedenden Waſſers ſteckt und glaubt, daß ein Thier darin ſey, das ihn gebiſſen habe. Von dieſer rohen Naturſprache wäre die Mythologie, nicht dem Princip, ſondern nur dem Grad der Ausführung nach verſchieden. Nach andern iſt ſie ein bloßer Nothbehelf wegen der Armuth der Bezeichnungen oder Unwiſſenheit der Urſachen, z. B. der Gott des Donners, des Feuers u. ſ. w.). §. 40. Der Charakter der wahren Mythologie iſt der der Univerſalität, der Unendlichkeit. — Denn ſie iſt nach §. 34 möglich in ſich ſelbſt nur, inwiefern ſie bis zur Totalität ausge- bildet und das urbildliche Univerſum ſelbſt darſtellt. In dieſem aber ſind nicht nur alle Dinge, ſondern auch alle Verhältniſſe der Dinge als abſolute Möglichkeiten zumal; daſſelbe muß alſo auch in der My- thologie der Fall ſeyn: inſofern Univerſalität. Da aber in dem

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/89>, abgerufen am 22.11.2024.