§. 32. Die Götter sind an sich weder sittlich noch un- sittlich, sondern losgesprochen von diesem Verhältniß, ab- solut selig.
(Dieß ist nothwendig festzuhalten, um den gehörigen Gesichtspunkt vorzüglich für Homers Dichtungen zu fassen. Es ist bekannt, wie viel über die Unsittlichkeit seiner Götter gesprochen worden ist; man hat daraus selbst die Vorzüge der modernen Poesie beweisen wollen. Allein daß dieser Maßstab auf diese höheren Wesen der Phantasie nicht an- gewendet werden könne, erhellt aus Folgendem).
Beweis: Sittlichkeit wie Unsittlichkeit beruht auf Entzweiung, indem Sittlichkeit nichts anderes ist als Aufnahme des Endlichen ins Unendliche im Handeln. Allein da, wo beide bis zur absoluten In- differenz eins sind, fällt nothwendig auch jenes, demnach Sittlichkeit, und mit dieser ihr Entgegengesetztes hinweg. Die Unsittlichkeit spricht sich an den homerischen Göttern eben deßwegen nicht als Unsittlichkeit, sondern nur als reine Begrenzung aus. Sie handeln durchaus inner- halb dieser Begrenzung, und sind nur insofern göttlich, als sie inner- halb derselben handeln; nur so ist das Unendliche mit dem Begrenzten in ihnen wahrhaft eins. Sie sind zu betrachten als Wesen einer hö- heren Natur. Sie handeln innerhalb ihrer Begrenzung so frei und nothwendig zugleich, als jedes Naturwesen innerhalb der seinigen; frei, weil es ihre Natur ist so zu handeln und sie kein anderes Gesetz kennen als ihre Natur, nothwendig, aus demselben Grunde, weil ihr Handeln ihnen durch ihre Natur vorgeschrieben ist. Die home- rischen Götter sind daher in ihrer Unsittlichkeit nur naiv und wahrhaft weder sittlich noch unsittlich, sondern ganz freigesprochen von diesem Gegensatz.
Wir können denselben Satz nun auch so ausdrücken: die Götter sind absolut selig. Kein anderes Beiwort tragen sie häufiger; ihr Leben macht den beständigen Gegensatz gegen das menschliche, welches voll Mühe, Zwietracht, der Krankheit und dem Alter unterworfen ist. Auch bei Sophokles sagt der alte Oedipus zu Theseus: 1
1Oed. Col. v. 607 seq.
§. 32. Die Götter ſind an ſich weder ſittlich noch un- ſittlich, ſondern losgeſprochen von dieſem Verhältniß, ab- ſolut ſelig.
(Dieß iſt nothwendig feſtzuhalten, um den gehörigen Geſichtspunkt vorzüglich für Homers Dichtungen zu faſſen. Es iſt bekannt, wie viel über die Unſittlichkeit ſeiner Götter geſprochen worden iſt; man hat daraus ſelbſt die Vorzüge der modernen Poeſie beweiſen wollen. Allein daß dieſer Maßſtab auf dieſe höheren Weſen der Phantaſie nicht an- gewendet werden könne, erhellt aus Folgendem).
Beweis: Sittlichkeit wie Unſittlichkeit beruht auf Entzweiung, indem Sittlichkeit nichts anderes iſt als Aufnahme des Endlichen ins Unendliche im Handeln. Allein da, wo beide bis zur abſoluten In- differenz eins ſind, fällt nothwendig auch jenes, demnach Sittlichkeit, und mit dieſer ihr Entgegengeſetztes hinweg. Die Unſittlichkeit ſpricht ſich an den homeriſchen Göttern eben deßwegen nicht als Unſittlichkeit, ſondern nur als reine Begrenzung aus. Sie handeln durchaus inner- halb dieſer Begrenzung, und ſind nur inſofern göttlich, als ſie inner- halb derſelben handeln; nur ſo iſt das Unendliche mit dem Begrenzten in ihnen wahrhaft eins. Sie ſind zu betrachten als Weſen einer hö- heren Natur. Sie handeln innerhalb ihrer Begrenzung ſo frei und nothwendig zugleich, als jedes Naturweſen innerhalb der ſeinigen; frei, weil es ihre Natur iſt ſo zu handeln und ſie kein anderes Geſetz kennen als ihre Natur, nothwendig, aus demſelben Grunde, weil ihr Handeln ihnen durch ihre Natur vorgeſchrieben iſt. Die home- riſchen Götter ſind daher in ihrer Unſittlichkeit nur naiv und wahrhaft weder ſittlich noch unſittlich, ſondern ganz freigeſprochen von dieſem Gegenſatz.
Wir können denſelben Satz nun auch ſo ausdrücken: die Götter ſind abſolut ſelig. Kein anderes Beiwort tragen ſie häufiger; ihr Leben macht den beſtändigen Gegenſatz gegen das menſchliche, welches voll Mühe, Zwietracht, der Krankheit und dem Alter unterworfen iſt. Auch bei Sophokles ſagt der alte Oedipus zu Theſeus: 1
1Oed. Col. v. 607 seq.
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§. 32. Die Götter ſind an ſich weder ſittlich noch un-
ſittlich, ſondern losgeſprochen von dieſem Verhältniß, ab-
ſolut ſelig.
(Dieß iſt nothwendig feſtzuhalten, um den gehörigen Geſichtspunkt
vorzüglich für Homers Dichtungen zu faſſen. Es iſt bekannt, wie viel
über die Unſittlichkeit ſeiner Götter geſprochen worden iſt; man hat
daraus ſelbſt die Vorzüge der modernen Poeſie beweiſen wollen. Allein
daß dieſer Maßſtab auf dieſe höheren Weſen der Phantaſie nicht an-
gewendet werden könne, erhellt aus Folgendem).
Beweis: Sittlichkeit wie Unſittlichkeit beruht auf Entzweiung,
indem Sittlichkeit nichts anderes iſt als Aufnahme des Endlichen ins
Unendliche im Handeln. Allein da, wo beide bis zur abſoluten In-
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und mit dieſer ihr Entgegengeſetztes hinweg. Die Unſittlichkeit ſpricht
ſich an den homeriſchen Göttern eben deßwegen nicht als Unſittlichkeit,
ſondern nur als reine Begrenzung aus. Sie handeln durchaus inner-
halb dieſer Begrenzung, und ſind nur inſofern göttlich, als ſie inner-
halb derſelben handeln; nur ſo iſt das Unendliche mit dem Begrenzten
in ihnen wahrhaft eins. Sie ſind zu betrachten als Weſen einer hö-
heren Natur. Sie handeln innerhalb ihrer Begrenzung ſo frei und
nothwendig zugleich, als jedes Naturweſen innerhalb der ſeinigen;
frei, weil es ihre Natur iſt ſo zu handeln und ſie kein anderes
Geſetz kennen als ihre Natur, nothwendig, aus demſelben Grunde,
weil ihr Handeln ihnen durch ihre Natur vorgeſchrieben iſt. Die home-
riſchen Götter ſind daher in ihrer Unſittlichkeit nur naiv und wahrhaft
weder ſittlich noch unſittlich, ſondern ganz freigeſprochen von dieſem
Gegenſatz.
Wir können denſelben Satz nun auch ſo ausdrücken: die Götter
ſind abſolut ſelig. Kein anderes Beiwort tragen ſie häufiger; ihr
Leben macht den beſtändigen Gegenſatz gegen das menſchliche, welches
voll Mühe, Zwietracht, der Krankheit und dem Alter unterworfen iſt.
Auch bei Sophokles ſagt der alte Oedipus zu Theſeus: 1
1 Oed. Col. v. 607 seq.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/72>, abgerufen am 24.11.2024.
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