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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Dieß ist der kurze Inhalt dieser Tragödie, in welcher, wie offen-
bar ist, das meiste durch höhere Schickung geschieht und durch ein
christliches Schicksal verhängt ist, nach welchem Sünder seyn müssen,
damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde. Dieß
entscheidet über das Wesentliche dieser Tragödie, die weder höllischer
Mächte zur Verführung, noch der bloß äußeren Nemesis zur Strafe bedarf.

Wenn wir daher in Shakespeare eigentlich nur den unendlichen
Verstand, der dadurch, daß er unendlich ist, als Vernunft erscheint,
bewundern, so müssen wir in Calderon die Vernunft erkennen. Es
sind nicht rein wirkliche Verhältnisse, in die ein unergründlicher Ver-
stand den Widerschein einer absoluten Welt legt, es sind absolute Ver-
hältnisse, es ist die absolute Welt selbst.

Calderon, obgleich die Züge seiner Charaktere groß und mit un-
gemeiner Schärfe und Sicherheit angegeben sind, bedarf doch des
Charakteristischen weniger, weil er ein wahreres Schicksal hat.

Aber ebenso sehr müssen wir Calderon in Rücksicht auf die innere
Form der Komposition erheben. Stellen wir das angeführte Werk
unter den höchsten Maßstab, den, daß die Absicht des Künstlers in das
Werk selbst übergegangen, mit ihm völlig eins und eben durch diese
absolute Erkennbarkeit wieder unerkennbar sey, so ist er in dieser Be-
ziehung nur mit Sophokles zu vergleichen.

Im Shakespeare beruht die Objektivirung und Unerkennbarkeit der
Absicht als solcher nur auf der Unergründlichkeit, Calderon ist ganz durch-
sichtig, man sieht bis auf den Grund seiner Absicht, ja er spricht sie
nicht selten selbst aus, wie Sophokles oft thut, und doch ist sie mit dem
Objekt so verschmolzen, daß sie nicht mehr als Absicht erscheint, wie
in einem Krystall das vollkommenste Gewebe, aber unerkennbar, dar-
gestellt ist. Diese höchste und absolute Besonnenheit, diese letzte In-
differenz von Absicht und Nothwendigkeit ist unter den Neueren nur in
Calderon auf solche Weise erreicht. Es gehört zu dieser Durchsichtigkeit
schon, daß das Ueberflüssige der Begleitung in ihm nicht so mit ver-
arbeitet seyn kann wie in Shakespeare. Die ganze Form ist con-
centrirter, und obwohl auch hier die komischen Partien neben den

Dieß iſt der kurze Inhalt dieſer Tragödie, in welcher, wie offen-
bar iſt, das meiſte durch höhere Schickung geſchieht und durch ein
chriſtliches Schickſal verhängt iſt, nach welchem Sünder ſeyn müſſen,
damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde. Dieß
entſcheidet über das Weſentliche dieſer Tragödie, die weder hölliſcher
Mächte zur Verführung, noch der bloß äußeren Nemeſis zur Strafe bedarf.

Wenn wir daher in Shakeſpeare eigentlich nur den unendlichen
Verſtand, der dadurch, daß er unendlich iſt, als Vernunft erſcheint,
bewundern, ſo müſſen wir in Calderon die Vernunft erkennen. Es
ſind nicht rein wirkliche Verhältniſſe, in die ein unergründlicher Ver-
ſtand den Widerſchein einer abſoluten Welt legt, es ſind abſolute Ver-
hältniſſe, es iſt die abſolute Welt ſelbſt.

Calderon, obgleich die Züge ſeiner Charaktere groß und mit un-
gemeiner Schärfe und Sicherheit angegeben ſind, bedarf doch des
Charakteriſtiſchen weniger, weil er ein wahreres Schickſal hat.

Aber ebenſo ſehr müſſen wir Calderon in Rückſicht auf die innere
Form der Kompoſition erheben. Stellen wir das angeführte Werk
unter den höchſten Maßſtab, den, daß die Abſicht des Künſtlers in das
Werk ſelbſt übergegangen, mit ihm völlig eins und eben durch dieſe
abſolute Erkennbarkeit wieder unerkennbar ſey, ſo iſt er in dieſer Be-
ziehung nur mit Sophokles zu vergleichen.

Im Shakeſpeare beruht die Objektivirung und Unerkennbarkeit der
Abſicht als ſolcher nur auf der Unergründlichkeit, Calderon iſt ganz durch-
ſichtig, man ſieht bis auf den Grund ſeiner Abſicht, ja er ſpricht ſie
nicht ſelten ſelbſt aus, wie Sophokles oft thut, und doch iſt ſie mit dem
Objekt ſo verſchmolzen, daß ſie nicht mehr als Abſicht erſcheint, wie
in einem Kryſtall das vollkommenſte Gewebe, aber unerkennbar, dar-
geſtellt iſt. Dieſe höchſte und abſolute Beſonnenheit, dieſe letzte In-
differenz von Abſicht und Nothwendigkeit iſt unter den Neueren nur in
Calderon auf ſolche Weiſe erreicht. Es gehört zu dieſer Durchſichtigkeit
ſchon, daß das Ueberflüſſige der Begleitung in ihm nicht ſo mit ver-
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centrirter, und obwohl auch hier die komiſchen Partien neben den

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[729/0405] Dieß iſt der kurze Inhalt dieſer Tragödie, in welcher, wie offen- bar iſt, das meiſte durch höhere Schickung geſchieht und durch ein chriſtliches Schickſal verhängt iſt, nach welchem Sünder ſeyn müſſen, damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde. Dieß entſcheidet über das Weſentliche dieſer Tragödie, die weder hölliſcher Mächte zur Verführung, noch der bloß äußeren Nemeſis zur Strafe bedarf. Wenn wir daher in Shakeſpeare eigentlich nur den unendlichen Verſtand, der dadurch, daß er unendlich iſt, als Vernunft erſcheint, bewundern, ſo müſſen wir in Calderon die Vernunft erkennen. Es ſind nicht rein wirkliche Verhältniſſe, in die ein unergründlicher Ver- ſtand den Widerſchein einer abſoluten Welt legt, es ſind abſolute Ver- hältniſſe, es iſt die abſolute Welt ſelbſt. Calderon, obgleich die Züge ſeiner Charaktere groß und mit un- gemeiner Schärfe und Sicherheit angegeben ſind, bedarf doch des Charakteriſtiſchen weniger, weil er ein wahreres Schickſal hat. Aber ebenſo ſehr müſſen wir Calderon in Rückſicht auf die innere Form der Kompoſition erheben. Stellen wir das angeführte Werk unter den höchſten Maßſtab, den, daß die Abſicht des Künſtlers in das Werk ſelbſt übergegangen, mit ihm völlig eins und eben durch dieſe abſolute Erkennbarkeit wieder unerkennbar ſey, ſo iſt er in dieſer Be- ziehung nur mit Sophokles zu vergleichen. Im Shakeſpeare beruht die Objektivirung und Unerkennbarkeit der Abſicht als ſolcher nur auf der Unergründlichkeit, Calderon iſt ganz durch- ſichtig, man ſieht bis auf den Grund ſeiner Abſicht, ja er ſpricht ſie nicht ſelten ſelbſt aus, wie Sophokles oft thut, und doch iſt ſie mit dem Objekt ſo verſchmolzen, daß ſie nicht mehr als Abſicht erſcheint, wie in einem Kryſtall das vollkommenſte Gewebe, aber unerkennbar, dar- geſtellt iſt. Dieſe höchſte und abſolute Beſonnenheit, dieſe letzte In- differenz von Abſicht und Nothwendigkeit iſt unter den Neueren nur in Calderon auf ſolche Weiſe erreicht. Es gehört zu dieſer Durchſichtigkeit ſchon, daß das Ueberflüſſige der Begleitung in ihm nicht ſo mit ver- arbeitet ſeyn kann wie in Shakeſpeare. Die ganze Form iſt con- centrirter, und obwohl auch hier die komiſchen Partien neben den

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/405>, abgerufen am 22.11.2024.