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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Aber überhaupt muß gleich die erste Construktion der Tragödie,
der erste Wurf so seyn, daß die Handlung auch in dieser Rücksicht als
Eine und als stetig erscheine, daß sie nicht durch ganz verschiedenartige
Motive mühsam fortgetrieben wird. Stoff und Feuer müssen gleich so
combinirt seyn, daß das Ganze von selbst fort brennt. Gleich das Erste
der Tragödie sey eine Synthesis, eine Verwicklung, die nur so gelöst
werden kann, wie sie gelöst wird, und für die ganze Folge keine Wahl
läßt. Welche Mittelglieder auch der Dichter ins Spiel setzen möge,
um die Handlung zu ihrem Ende zu leiten, so müssen diese zuletzt selbst
wieder aus dem über dem Ganzen ruhenden Verhängniß hervorgehen
und Werkzeuge von ihm scheinen. Widrigenfalls wird der Geist be-
ständig aus der höheren Ordnung der Dinge in die tiefere versetzt, und
umgekehrt.

Die Begrenzung eines dramatischen Werks in Beziehung auf das,
was in ihm sittlich-möglich ist, wird durch das ausgedrückt, was man
die Sitten der Tragödie nennt. Was man ursprünglich darunter
verstand, ist ohne Zweifel die Stufe der sittlichen Bildung, auf welche
die Personen eines Drama gesetzt, und wodurch gewisse Arten von
Handlungen von ihnen ausgeschlossen, dagegen die, welche geschehen,
nothwendig gemacht sind. Die erste Forderung ist nun ohne Zweifel
die, welche auch Aristoteles macht, daß sie edler Art seyen, worunter
er nach dem, was früherhin als seine Behauptung über den einzig
höchsten tragischen Fall angeführt worden, nicht eben absolut schuldlose,
sondern überhaupt edle und große Sitten fordert. Daß ein wirklicher,
aber durch Charakter großer Verbrecher vorgestellt wird, wäre bloß in
dem anderen tragischen Fall möglich, wo ein äußerst ungerechter Mensch
aus dem Glück in Unglück gestürzt würde. Unter denjenigen Tragödien
der Alten, die uns geblieben sind, kenne ich keinen Fall dieser Art, und
das Verbrechen, wenn es in der wahrhaft sittlichen Tragödie vorgestellt
ist, erscheint immer selbst durch Schicksal verhängt. Es ist aber aus
dem Einen Grund, daß den Neueren das Schicksal fehlt, oder von
ihnen wenigstens nicht auf die Weise der Alten in Bewegung gesetzt
werden kann, es ist, sage ich, schon daraus einzusehen, warum die

Aber überhaupt muß gleich die erſte Conſtruktion der Tragödie,
der erſte Wurf ſo ſeyn, daß die Handlung auch in dieſer Rückſicht als
Eine und als ſtetig erſcheine, daß ſie nicht durch ganz verſchiedenartige
Motive mühſam fortgetrieben wird. Stoff und Feuer müſſen gleich ſo
combinirt ſeyn, daß das Ganze von ſelbſt fort brennt. Gleich das Erſte
der Tragödie ſey eine Syntheſis, eine Verwicklung, die nur ſo gelöst
werden kann, wie ſie gelöst wird, und für die ganze Folge keine Wahl
läßt. Welche Mittelglieder auch der Dichter ins Spiel ſetzen möge,
um die Handlung zu ihrem Ende zu leiten, ſo müſſen dieſe zuletzt ſelbſt
wieder aus dem über dem Ganzen ruhenden Verhängniß hervorgehen
und Werkzeuge von ihm ſcheinen. Widrigenfalls wird der Geiſt be-
ſtändig aus der höheren Ordnung der Dinge in die tiefere verſetzt, und
umgekehrt.

Die Begrenzung eines dramatiſchen Werks in Beziehung auf das,
was in ihm ſittlich-möglich iſt, wird durch das ausgedrückt, was man
die Sitten der Tragödie nennt. Was man urſprünglich darunter
verſtand, iſt ohne Zweifel die Stufe der ſittlichen Bildung, auf welche
die Perſonen eines Drama geſetzt, und wodurch gewiſſe Arten von
Handlungen von ihnen ausgeſchloſſen, dagegen die, welche geſchehen,
nothwendig gemacht ſind. Die erſte Forderung iſt nun ohne Zweifel
die, welche auch Ariſtoteles macht, daß ſie edler Art ſeyen, worunter
er nach dem, was früherhin als ſeine Behauptung über den einzig
höchſten tragiſchen Fall angeführt worden, nicht eben abſolut ſchuldloſe,
ſondern überhaupt edle und große Sitten fordert. Daß ein wirklicher,
aber durch Charakter großer Verbrecher vorgeſtellt wird, wäre bloß in
dem anderen tragiſchen Fall möglich, wo ein äußerſt ungerechter Menſch
aus dem Glück in Unglück geſtürzt würde. Unter denjenigen Tragödien
der Alten, die uns geblieben ſind, kenne ich keinen Fall dieſer Art, und
das Verbrechen, wenn es in der wahrhaft ſittlichen Tragödie vorgeſtellt
iſt, erſcheint immer ſelbſt durch Schickſal verhängt. Es iſt aber aus
dem Einen Grund, daß den Neueren das Schickſal fehlt, oder von
ihnen wenigſtens nicht auf die Weiſe der Alten in Bewegung geſetzt
werden kann, es iſt, ſage ich, ſchon daraus einzuſehen, warum die

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[701/0377] Aber überhaupt muß gleich die erſte Conſtruktion der Tragödie, der erſte Wurf ſo ſeyn, daß die Handlung auch in dieſer Rückſicht als Eine und als ſtetig erſcheine, daß ſie nicht durch ganz verſchiedenartige Motive mühſam fortgetrieben wird. Stoff und Feuer müſſen gleich ſo combinirt ſeyn, daß das Ganze von ſelbſt fort brennt. Gleich das Erſte der Tragödie ſey eine Syntheſis, eine Verwicklung, die nur ſo gelöst werden kann, wie ſie gelöst wird, und für die ganze Folge keine Wahl läßt. Welche Mittelglieder auch der Dichter ins Spiel ſetzen möge, um die Handlung zu ihrem Ende zu leiten, ſo müſſen dieſe zuletzt ſelbſt wieder aus dem über dem Ganzen ruhenden Verhängniß hervorgehen und Werkzeuge von ihm ſcheinen. Widrigenfalls wird der Geiſt be- ſtändig aus der höheren Ordnung der Dinge in die tiefere verſetzt, und umgekehrt. Die Begrenzung eines dramatiſchen Werks in Beziehung auf das, was in ihm ſittlich-möglich iſt, wird durch das ausgedrückt, was man die Sitten der Tragödie nennt. Was man urſprünglich darunter verſtand, iſt ohne Zweifel die Stufe der ſittlichen Bildung, auf welche die Perſonen eines Drama geſetzt, und wodurch gewiſſe Arten von Handlungen von ihnen ausgeſchloſſen, dagegen die, welche geſchehen, nothwendig gemacht ſind. Die erſte Forderung iſt nun ohne Zweifel die, welche auch Ariſtoteles macht, daß ſie edler Art ſeyen, worunter er nach dem, was früherhin als ſeine Behauptung über den einzig höchſten tragiſchen Fall angeführt worden, nicht eben abſolut ſchuldloſe, ſondern überhaupt edle und große Sitten fordert. Daß ein wirklicher, aber durch Charakter großer Verbrecher vorgeſtellt wird, wäre bloß in dem anderen tragiſchen Fall möglich, wo ein äußerſt ungerechter Menſch aus dem Glück in Unglück geſtürzt würde. Unter denjenigen Tragödien der Alten, die uns geblieben ſind, kenne ich keinen Fall dieſer Art, und das Verbrechen, wenn es in der wahrhaft ſittlichen Tragödie vorgeſtellt iſt, erſcheint immer ſelbſt durch Schickſal verhängt. Es iſt aber aus dem Einen Grund, daß den Neueren das Schickſal fehlt, oder von ihnen wenigſtens nicht auf die Weiſe der Alten in Bewegung geſetzt werden kann, es iſt, ſage ich, ſchon daraus einzuſehen, warum die

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/377>, abgerufen am 25.11.2024.