welches allenfalls die aus der socialen Welt verbannte Unregelmäßig- keit noch aufnimmt, ein Kriegsheer von einem Fürsten angeführt, ja Seiltänzer und eine Räuberbande. Wo Sitte und Zufall, der nach jener modificirt werden mußte, nicht mehr ausreichten, da ist das Ro- mantische in den Charakter gelegt worden, von der freien anmuthigen Philine an bis zu dem edelsten Styl hinauf zu Mignon, durch welche der Dichter sich in einer Schöpfung offenbart, an der die tiefste Innig- keit des Gemüths und die Stärke der Imagination gleichen Antheil haben. Auf diesem wundervollen Wesen und der Geschichte ihrer Familie -- in der tragischen Novelle der Sperata -- ruht die Herrlichkeit des Erfinders; die Lebensweisheit wird gleichsam arm dagegen, und den- noch hat er in seiner künstlerischen Weisheit nicht mehr Gewicht darauf gelegt wie auf jeden andern Theil des Buchs. Auch sie nur haben, könnte man sagen, ihre Bestimmung erfüllt und ihrem Genius gedient.
Was in dem Roman durch Schuld der Zeit und des Bodens der Farbengebung des Ganzen abgeht, muß in die einzelnen Ge- stalten gelegt werden; dieß ist das vorzüglichste Geheimniß in der Com- position des Wilhelm Meister; diese Macht hat der Dichter so weit geübt, daß er auch den gemeinsten Personen, z. B. der alten Barbara in dem einzelnen Moment eine wunderbare Erhöhung geliehen hat, in der sie wahrhaft tragische Worte aussprechen, bei denen der Held der Geschichte gleichsam selbst zu vergehen scheint.
Was Cervantes nur einmal zu erfinden hatte, mußte der deutsche Dichter vielfach erfinden und bei jedem Schritte auf so ungünstigem Boden sich neue Bahn brechen, und da die Ungünstigkeit der Umgebung seinen Erfindungen nicht die Gefälligkeit zuläßt, die denen des Cervan- tes eigen ist, geht er desto tiefer mit der Intention und ersetzt den äußern Mangel durch die innere Kraft der Erfindung. Dabei ist die Organisation aufs Kunstreichste gebildet, und im ersten Keim das Blatt wie die Blüthe mit entworfen, und der kleinste Umstand im voraus nicht vernachlässigt, um dann überraschend wiederzukehren.
Außer dem Roman in der vollkommensten Gestalt, inwiefern er
welches allenfalls die aus der ſocialen Welt verbannte Unregelmäßig- keit noch aufnimmt, ein Kriegsheer von einem Fürſten angeführt, ja Seiltänzer und eine Räuberbande. Wo Sitte und Zufall, der nach jener modificirt werden mußte, nicht mehr ausreichten, da iſt das Ro- mantiſche in den Charakter gelegt worden, von der freien anmuthigen Philine an bis zu dem edelſten Styl hinauf zu Mignon, durch welche der Dichter ſich in einer Schöpfung offenbart, an der die tiefſte Innig- keit des Gemüths und die Stärke der Imagination gleichen Antheil haben. Auf dieſem wundervollen Weſen und der Geſchichte ihrer Familie — in der tragiſchen Novelle der Sperata — ruht die Herrlichkeit des Erfinders; die Lebensweisheit wird gleichſam arm dagegen, und den- noch hat er in ſeiner künſtleriſchen Weisheit nicht mehr Gewicht darauf gelegt wie auf jeden andern Theil des Buchs. Auch ſie nur haben, könnte man ſagen, ihre Beſtimmung erfüllt und ihrem Genius gedient.
Was in dem Roman durch Schuld der Zeit und des Bodens der Farbengebung des Ganzen abgeht, muß in die einzelnen Ge- ſtalten gelegt werden; dieß iſt das vorzüglichſte Geheimniß in der Com- poſition des Wilhelm Meiſter; dieſe Macht hat der Dichter ſo weit geübt, daß er auch den gemeinſten Perſonen, z. B. der alten Barbara in dem einzelnen Moment eine wunderbare Erhöhung geliehen hat, in der ſie wahrhaft tragiſche Worte ausſprechen, bei denen der Held der Geſchichte gleichſam ſelbſt zu vergehen ſcheint.
Was Cervantes nur einmal zu erfinden hatte, mußte der deutſche Dichter vielfach erfinden und bei jedem Schritte auf ſo ungünſtigem Boden ſich neue Bahn brechen, und da die Ungünſtigkeit der Umgebung ſeinen Erfindungen nicht die Gefälligkeit zuläßt, die denen des Cervan- tes eigen iſt, geht er deſto tiefer mit der Intention und erſetzt den äußern Mangel durch die innere Kraft der Erfindung. Dabei iſt die Organiſation aufs Kunſtreichſte gebildet, und im erſten Keim das Blatt wie die Blüthe mit entworfen, und der kleinſte Umſtand im voraus nicht vernachläſſigt, um dann überraſchend wiederzukehren.
Außer dem Roman in der vollkommenſten Geſtalt, inwiefern er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0358"n="682"/>
welches allenfalls die aus der ſocialen Welt verbannte Unregelmäßig-<lb/>
keit noch aufnimmt, ein Kriegsheer von einem Fürſten angeführt,<lb/>
ja Seiltänzer und eine Räuberbande. Wo Sitte und Zufall, der nach<lb/>
jener modificirt werden mußte, nicht mehr ausreichten, da iſt das Ro-<lb/>
mantiſche in den Charakter gelegt worden, von der freien anmuthigen<lb/>
Philine an bis zu dem edelſten Styl hinauf zu Mignon, durch welche<lb/>
der Dichter ſich in einer Schöpfung offenbart, an der die tiefſte Innig-<lb/>
keit des Gemüths und die Stärke der Imagination gleichen Antheil<lb/>
haben. Auf dieſem wundervollen Weſen und der Geſchichte ihrer Familie<lb/>— in der tragiſchen Novelle der Sperata — ruht die Herrlichkeit des<lb/>
Erfinders; die Lebensweisheit wird gleichſam arm dagegen, und den-<lb/>
noch hat er in ſeiner künſtleriſchen Weisheit nicht mehr Gewicht<lb/>
darauf gelegt wie auf jeden andern Theil des Buchs. Auch ſie nur<lb/>
haben, könnte man ſagen, ihre Beſtimmung erfüllt und ihrem Genius<lb/>
gedient.</p><lb/><p>Was in dem Roman durch Schuld der Zeit und des Bodens<lb/>
der Farbengebung des Ganzen abgeht, muß in die einzelnen Ge-<lb/>ſtalten gelegt werden; dieß iſt das vorzüglichſte Geheimniß in der Com-<lb/>
poſition des Wilhelm Meiſter; dieſe Macht hat der Dichter ſo weit<lb/>
geübt, daß er auch den gemeinſten Perſonen, z. B. der alten Barbara<lb/>
in dem einzelnen Moment eine wunderbare Erhöhung geliehen hat, in<lb/>
der ſie wahrhaft tragiſche Worte ausſprechen, bei denen der Held der<lb/>
Geſchichte gleichſam ſelbſt zu vergehen ſcheint.</p><lb/><p>Was Cervantes nur einmal zu erfinden hatte, mußte der deutſche<lb/>
Dichter vielfach erfinden und bei jedem Schritte auf ſo ungünſtigem<lb/>
Boden ſich neue Bahn brechen, und da die Ungünſtigkeit der Umgebung<lb/>ſeinen Erfindungen nicht die Gefälligkeit zuläßt, die denen des Cervan-<lb/>
tes eigen iſt, geht er deſto tiefer mit der Intention und erſetzt den<lb/>
äußern Mangel durch die innere Kraft der Erfindung. Dabei iſt die<lb/>
Organiſation aufs Kunſtreichſte gebildet, und im erſten Keim das Blatt<lb/>
wie die Blüthe mit entworfen, und der kleinſte Umſtand im voraus<lb/>
nicht vernachläſſigt, um dann überraſchend wiederzukehren.</p><lb/><p>Außer dem Roman in der vollkommenſten Geſtalt, inwiefern er<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[682/0358]
welches allenfalls die aus der ſocialen Welt verbannte Unregelmäßig-
keit noch aufnimmt, ein Kriegsheer von einem Fürſten angeführt,
ja Seiltänzer und eine Räuberbande. Wo Sitte und Zufall, der nach
jener modificirt werden mußte, nicht mehr ausreichten, da iſt das Ro-
mantiſche in den Charakter gelegt worden, von der freien anmuthigen
Philine an bis zu dem edelſten Styl hinauf zu Mignon, durch welche
der Dichter ſich in einer Schöpfung offenbart, an der die tiefſte Innig-
keit des Gemüths und die Stärke der Imagination gleichen Antheil
haben. Auf dieſem wundervollen Weſen und der Geſchichte ihrer Familie
— in der tragiſchen Novelle der Sperata — ruht die Herrlichkeit des
Erfinders; die Lebensweisheit wird gleichſam arm dagegen, und den-
noch hat er in ſeiner künſtleriſchen Weisheit nicht mehr Gewicht
darauf gelegt wie auf jeden andern Theil des Buchs. Auch ſie nur
haben, könnte man ſagen, ihre Beſtimmung erfüllt und ihrem Genius
gedient.
Was in dem Roman durch Schuld der Zeit und des Bodens
der Farbengebung des Ganzen abgeht, muß in die einzelnen Ge-
ſtalten gelegt werden; dieß iſt das vorzüglichſte Geheimniß in der Com-
poſition des Wilhelm Meiſter; dieſe Macht hat der Dichter ſo weit
geübt, daß er auch den gemeinſten Perſonen, z. B. der alten Barbara
in dem einzelnen Moment eine wunderbare Erhöhung geliehen hat, in
der ſie wahrhaft tragiſche Worte ausſprechen, bei denen der Held der
Geſchichte gleichſam ſelbſt zu vergehen ſcheint.
Was Cervantes nur einmal zu erfinden hatte, mußte der deutſche
Dichter vielfach erfinden und bei jedem Schritte auf ſo ungünſtigem
Boden ſich neue Bahn brechen, und da die Ungünſtigkeit der Umgebung
ſeinen Erfindungen nicht die Gefälligkeit zuläßt, die denen des Cervan-
tes eigen iſt, geht er deſto tiefer mit der Intention und erſetzt den
äußern Mangel durch die innere Kraft der Erfindung. Dabei iſt die
Organiſation aufs Kunſtreichſte gebildet, und im erſten Keim das Blatt
wie die Blüthe mit entworfen, und der kleinſte Umſtand im voraus
nicht vernachläſſigt, um dann überraſchend wiederzukehren.
Außer dem Roman in der vollkommenſten Geſtalt, inwiefern er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/358>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.