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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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legt. Da nämlich der Roman von der einen Seite die nothwendige
Hinneigung zum Dramatischen hat, und doch von der andern Seite
verweilend wie das Epos seyn soll, so muß es diese den raschen
Lauf der Handlung mäßigende Kraft in das Objekt, nämlich in den
Helden selbst legen. Wenn Goethe in derselbigen Stelle des Wilhelm
Meister sagt: Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Be-
gebenheiten
, im Drama Charaktere und Thaten vorgestellt
werden, so hat dieß dieselbe Beziehung. Gesinnungen können auch
wohl nur für eine gewisse Zeit und Lage stattfinden, sie sind wandel-
barer als der Charakter; der Charakter drängt unmittelbarer zur Hand-
lung und zum Ende, als Gesinnungen thun, und die That ist ent-
scheidender als Begebenheiten sind, wie sie aus dem entschiedenen und
starken Charakter kommt und im Guten und Bösen eine gewisse Voll-
kommenheit desselben fordert. Allein dieß ist freilich nicht von einer
gänzlichen Negation der Thatkraft im Helden zu verstehen, und die
vollkommenste Vereinigung wird immer die bleiben, welche im Don
Quixote getroffen ist, daß die aus dem Charakter kommende That durch
die Begegnung und die Umstände für den Helden zur Begeben-
heit
wird.

Der Roman soll ein Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigstens,
seyn, und so zur partiellen Mythologie werden. Er soll zur heiteren,
ruhigen Betrachtung einladen und die Theilnahme allenthalben gleich
fest halten; jeder seiner Theile, alle Worte sollten gleich golden seyn,
wie in ein innerliches höheres Sylbenmaß gefaßt, da ihm das äußer-
liche mangelt. Deßwegen kann er auch nur die Frucht eines ganz
reifen Geistes seyn, wie die alte Tradition den Homeros immer als
Greis schildert. Er ist gleichsam die letzte Läuterung des Geistes, wo-
durch er in sich selbst zurückkehrt und sein Leben und seine Bildung
wieder in Blüthe verwandelt; er ist die Frucht, jedoch mit Blüthen
gekrönt.

Alles im Menschen anregend soll der Roman auch die Leidenschaft
in Bewegung setzen; das höchste Tragische ist ihm erlaubt wie das
Komische, nur daß der Dichter selbst von beidem unberührt bleibe.

legt. Da nämlich der Roman von der einen Seite die nothwendige
Hinneigung zum Dramatiſchen hat, und doch von der andern Seite
verweilend wie das Epos ſeyn ſoll, ſo muß es dieſe den raſchen
Lauf der Handlung mäßigende Kraft in das Objekt, nämlich in den
Helden ſelbſt legen. Wenn Goethe in derſelbigen Stelle des Wilhelm
Meiſter ſagt: Im Roman ſollen vorzüglich Geſinnungen und Be-
gebenheiten
, im Drama Charaktere und Thaten vorgeſtellt
werden, ſo hat dieß dieſelbe Beziehung. Geſinnungen können auch
wohl nur für eine gewiſſe Zeit und Lage ſtattfinden, ſie ſind wandel-
barer als der Charakter; der Charakter drängt unmittelbarer zur Hand-
lung und zum Ende, als Geſinnungen thun, und die That iſt ent-
ſcheidender als Begebenheiten ſind, wie ſie aus dem entſchiedenen und
ſtarken Charakter kommt und im Guten und Böſen eine gewiſſe Voll-
kommenheit deſſelben fordert. Allein dieß iſt freilich nicht von einer
gänzlichen Negation der Thatkraft im Helden zu verſtehen, und die
vollkommenſte Vereinigung wird immer die bleiben, welche im Don
Quixote getroffen iſt, daß die aus dem Charakter kommende That durch
die Begegnung und die Umſtände für den Helden zur Begeben-
heit
wird.

Der Roman ſoll ein Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigſtens,
ſeyn, und ſo zur partiellen Mythologie werden. Er ſoll zur heiteren,
ruhigen Betrachtung einladen und die Theilnahme allenthalben gleich
feſt halten; jeder ſeiner Theile, alle Worte ſollten gleich golden ſeyn,
wie in ein innerliches höheres Sylbenmaß gefaßt, da ihm das äußer-
liche mangelt. Deßwegen kann er auch nur die Frucht eines ganz
reifen Geiſtes ſeyn, wie die alte Tradition den Homeros immer als
Greis ſchildert. Er iſt gleichſam die letzte Läuterung des Geiſtes, wo-
durch er in ſich ſelbſt zurückkehrt und ſein Leben und ſeine Bildung
wieder in Blüthe verwandelt; er iſt die Frucht, jedoch mit Blüthen
gekrönt.

Alles im Menſchen anregend ſoll der Roman auch die Leidenſchaft
in Bewegung ſetzen; das höchſte Tragiſche iſt ihm erlaubt wie das
Komiſche, nur daß der Dichter ſelbſt von beidem unberührt bleibe.

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[676/0352] legt. Da nämlich der Roman von der einen Seite die nothwendige Hinneigung zum Dramatiſchen hat, und doch von der andern Seite verweilend wie das Epos ſeyn ſoll, ſo muß es dieſe den raſchen Lauf der Handlung mäßigende Kraft in das Objekt, nämlich in den Helden ſelbſt legen. Wenn Goethe in derſelbigen Stelle des Wilhelm Meiſter ſagt: Im Roman ſollen vorzüglich Geſinnungen und Be- gebenheiten, im Drama Charaktere und Thaten vorgeſtellt werden, ſo hat dieß dieſelbe Beziehung. Geſinnungen können auch wohl nur für eine gewiſſe Zeit und Lage ſtattfinden, ſie ſind wandel- barer als der Charakter; der Charakter drängt unmittelbarer zur Hand- lung und zum Ende, als Geſinnungen thun, und die That iſt ent- ſcheidender als Begebenheiten ſind, wie ſie aus dem entſchiedenen und ſtarken Charakter kommt und im Guten und Böſen eine gewiſſe Voll- kommenheit deſſelben fordert. Allein dieß iſt freilich nicht von einer gänzlichen Negation der Thatkraft im Helden zu verſtehen, und die vollkommenſte Vereinigung wird immer die bleiben, welche im Don Quixote getroffen iſt, daß die aus dem Charakter kommende That durch die Begegnung und die Umſtände für den Helden zur Begeben- heit wird. Der Roman ſoll ein Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigſtens, ſeyn, und ſo zur partiellen Mythologie werden. Er ſoll zur heiteren, ruhigen Betrachtung einladen und die Theilnahme allenthalben gleich feſt halten; jeder ſeiner Theile, alle Worte ſollten gleich golden ſeyn, wie in ein innerliches höheres Sylbenmaß gefaßt, da ihm das äußer- liche mangelt. Deßwegen kann er auch nur die Frucht eines ganz reifen Geiſtes ſeyn, wie die alte Tradition den Homeros immer als Greis ſchildert. Er iſt gleichſam die letzte Läuterung des Geiſtes, wo- durch er in ſich ſelbſt zurückkehrt und ſein Leben und ſeine Bildung wieder in Blüthe verwandelt; er iſt die Frucht, jedoch mit Blüthen gekrönt. Alles im Menſchen anregend ſoll der Roman auch die Leidenſchaft in Bewegung ſetzen; das höchſte Tragiſche iſt ihm erlaubt wie das Komiſche, nur daß der Dichter ſelbſt von beidem unberührt bleibe.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 676. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/352>, abgerufen am 22.11.2024.