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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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müssen wir ihm dagegen nach dem einstimmigen Zeugniß der Alten,
namentlich des Aristoteles, die größte rhythmische Energie und eine
wahrhaft homerische Kraft zuschreiben. Das Glück hat auch gewollt,
daß uns das Gedicht des Lucretius eine Spur des darin herrschenden
Geistes erhalten hat. Lucretius, der in der schlechten Schreibart
des Epikurus und seiner Anhänger kein Vorbild haben konnte, hat ohne
Zweifel die rhythmische Form sowohl als die poetische Kraft und Weise
der Darstellung von dem Empedokles entlehnt, und ist ihm in der Form
ebenso wie dem Epikurus in der Materie des Gedichts gefolgt. Das
Gedicht des Lucretius nähert sich in seiner Art mehr als irgend ein
römisches, z. B. das Virgilische, den wahrhaft alten Vorbildern, und selbst
die Kraft des ächt epischen Rhythmus stellt uns allein Lucretius dar,
da von Ennius nur Bruchstücke geblieben sind. Lucretius' Hexameter
machen den größten Contrast gegen die gefeilten und geleckten Verse
des Virgil. Das Wesen seines Werks trägt durchaus das Gepräge
eines großen Gemüths, und nur dem wahrhaft poetischen Geiste war
es möglich in die Darstellung der Epikurischen Lehre solche Andacht
und die Begeisterung eines wahren Priesters der Natur zu legen. Es
ist nothwendig, daß, da der darzustellende Gegenstand an und für sich
selbst unpoetisch ist, alle Poesie in das Subjekt zurückfallen muß, und
aus demselben Grunde können wir auch das Gedicht des Lucretius nur
als einen Versuch des absoluten Lehrgedichts ansehen, welches auch schon
durch den Gegenstand selbst poetisch seyn muß. Aber diejenigen Stellen,
in welchen sich wirklich seine persönliche Begeisterung ausspricht, der
Eingang zum ersten Buch, welcher eine Anrufung der Benus ist, sowie
alle diejenigen Stellen, in welchen er den Epikurus preist als den,
welcher die Natur der Dinge eröffnet und zuerst den Wahn und Aber-
glauben der Religion gestürzt habe, tragen durchaus die höchste Majestät
und das Gepräge einer männlichen Kunst an sich. Wie die Alten von
Empedokles sagen, daß er in seinem Gedicht mit wahrer Wuth über
die Schranken der menschlichen Erkenntniß geredet, so geht das Feuer
des Lucretius gegen Religion und falsche Sittlichkeit nicht selten in
wahre begeisterte Wuth über. Die gänzliche Vernichtung alles Geistigen

müſſen wir ihm dagegen nach dem einſtimmigen Zeugniß der Alten,
namentlich des Ariſtoteles, die größte rhythmiſche Energie und eine
wahrhaft homeriſche Kraft zuſchreiben. Das Glück hat auch gewollt,
daß uns das Gedicht des Lucretius eine Spur des darin herrſchenden
Geiſtes erhalten hat. Lucretius, der in der ſchlechten Schreibart
des Epikurus und ſeiner Anhänger kein Vorbild haben konnte, hat ohne
Zweifel die rhythmiſche Form ſowohl als die poetiſche Kraft und Weiſe
der Darſtellung von dem Empedokles entlehnt, und iſt ihm in der Form
ebenſo wie dem Epikurus in der Materie des Gedichts gefolgt. Das
Gedicht des Lucretius nähert ſich in ſeiner Art mehr als irgend ein
römiſches, z. B. das Virgiliſche, den wahrhaft alten Vorbildern, und ſelbſt
die Kraft des ächt epiſchen Rhythmus ſtellt uns allein Lucretius dar,
da von Ennius nur Bruchſtücke geblieben ſind. Lucretius’ Hexameter
machen den größten Contraſt gegen die gefeilten und geleckten Verſe
des Virgil. Das Weſen ſeines Werks trägt durchaus das Gepräge
eines großen Gemüths, und nur dem wahrhaft poetiſchen Geiſte war
es möglich in die Darſtellung der Epikuriſchen Lehre ſolche Andacht
und die Begeiſterung eines wahren Prieſters der Natur zu legen. Es
iſt nothwendig, daß, da der darzuſtellende Gegenſtand an und für ſich
ſelbſt unpoetiſch iſt, alle Poeſie in das Subjekt zurückfallen muß, und
aus demſelben Grunde können wir auch das Gedicht des Lucretius nur
als einen Verſuch des abſoluten Lehrgedichts anſehen, welches auch ſchon
durch den Gegenſtand ſelbſt poetiſch ſeyn muß. Aber diejenigen Stellen,
in welchen ſich wirklich ſeine perſönliche Begeiſterung ausſpricht, der
Eingang zum erſten Buch, welcher eine Anrufung der Benus iſt, ſowie
alle diejenigen Stellen, in welchen er den Epikurus preist als den,
welcher die Natur der Dinge eröffnet und zuerſt den Wahn und Aber-
glauben der Religion geſtürzt habe, tragen durchaus die höchſte Majeſtät
und das Gepräge einer männlichen Kunſt an ſich. Wie die Alten von
Empedokles ſagen, daß er in ſeinem Gedicht mit wahrer Wuth über
die Schranken der menſchlichen Erkenntniß geredet, ſo geht das Feuer
des Lucretius gegen Religion und falſche Sittlichkeit nicht ſelten in
wahre begeiſterte Wuth über. Die gänzliche Vernichtung alles Geiſtigen

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[665/0341] müſſen wir ihm dagegen nach dem einſtimmigen Zeugniß der Alten, namentlich des Ariſtoteles, die größte rhythmiſche Energie und eine wahrhaft homeriſche Kraft zuſchreiben. Das Glück hat auch gewollt, daß uns das Gedicht des Lucretius eine Spur des darin herrſchenden Geiſtes erhalten hat. Lucretius, der in der ſchlechten Schreibart des Epikurus und ſeiner Anhänger kein Vorbild haben konnte, hat ohne Zweifel die rhythmiſche Form ſowohl als die poetiſche Kraft und Weiſe der Darſtellung von dem Empedokles entlehnt, und iſt ihm in der Form ebenſo wie dem Epikurus in der Materie des Gedichts gefolgt. Das Gedicht des Lucretius nähert ſich in ſeiner Art mehr als irgend ein römiſches, z. B. das Virgiliſche, den wahrhaft alten Vorbildern, und ſelbſt die Kraft des ächt epiſchen Rhythmus ſtellt uns allein Lucretius dar, da von Ennius nur Bruchſtücke geblieben ſind. Lucretius’ Hexameter machen den größten Contraſt gegen die gefeilten und geleckten Verſe des Virgil. Das Weſen ſeines Werks trägt durchaus das Gepräge eines großen Gemüths, und nur dem wahrhaft poetiſchen Geiſte war es möglich in die Darſtellung der Epikuriſchen Lehre ſolche Andacht und die Begeiſterung eines wahren Prieſters der Natur zu legen. Es iſt nothwendig, daß, da der darzuſtellende Gegenſtand an und für ſich ſelbſt unpoetiſch iſt, alle Poeſie in das Subjekt zurückfallen muß, und aus demſelben Grunde können wir auch das Gedicht des Lucretius nur als einen Verſuch des abſoluten Lehrgedichts anſehen, welches auch ſchon durch den Gegenſtand ſelbſt poetiſch ſeyn muß. Aber diejenigen Stellen, in welchen ſich wirklich ſeine perſönliche Begeiſterung ausſpricht, der Eingang zum erſten Buch, welcher eine Anrufung der Benus iſt, ſowie alle diejenigen Stellen, in welchen er den Epikurus preist als den, welcher die Natur der Dinge eröffnet und zuerſt den Wahn und Aber- glauben der Religion geſtürzt habe, tragen durchaus die höchſte Majeſtät und das Gepräge einer männlichen Kunſt an ſich. Wie die Alten von Empedokles ſagen, daß er in ſeinem Gedicht mit wahrer Wuth über die Schranken der menſchlichen Erkenntniß geredet, ſo geht das Feuer des Lucretius gegen Religion und falſche Sittlichkeit nicht ſelten in wahre begeiſterte Wuth über. Die gänzliche Vernichtung alles Geiſtigen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/341>, abgerufen am 25.11.2024.