kann bei dieser Untrennbarkeit des Stoffs und der Form in einer gesetz- mäßigen Bildung wie die der griechischen Poesie auch das Epos nur Eines seyn und kann höchstens darin dem allgemeinen Gesetz der Er- scheinung folgen, daß es sich in seiner Identität durch zwei verschiedene Einheiten ausdrückt. Die Ilias und Odyssee sind nur die zwei Seiten eines und desselbigen Gedichts. Die Verschiedenheit der Urheber kommt hier nicht in Betracht; sie sind durch ihre Natur eins und darum auch durch den gemeinschaftlichen Namen Homeros vereinigt, der selbst alle- gorisch und bedeutend ist. Einige haben den Gegensatz der Ilias und Odyssee als den der aufgehenden und untergehenden Sonne dargestellt. Ich möchte die Ilias das centrifugale, die Odyssee das centripetale Ge- dicht nennen.
Was die neueren im Sinn des alten Epos unternommenen Ge- dichte betrifft, so will ich den Uebergang zu diesen durch eine kurze Vergleichung des Virgil mit Homer machen.
Man kann Virgil fast nach allen angegebenen Bestimmungen dem Homer entgegensetzen. Die erste gleich, die Schicksallosigkeit des Epos betreffend, so hat sich Virgil vielmehr bestrebt in die Handlung Schick- sal durch eine Art tragischer Verwicklung zu bringen. Die Bestimmung des Epos, die Bewegung ganz allein in den Gegenstand zu legen, ist ebensowenig erfüllt, da er nicht selten zur Theilnahme an seinem Gegen- stand herabsinkt. Die erhabene Zufälligkeit des Epos, dessen Anfang und Ende ebenso, wie die dunkle Zeit der Urwelt und die Zukunft unbestimmt ist, ist durch die Aeneis gänzlich aufgehoben. Sie hat einen bestimmten Zweck, die Gründung des römischen Reichs von Troja ab- zuleiten, und dadurch dem Augustus zu schmeicheln. Dieser Zweck ist gleich anfangs bestimmt verkündet, und wie die Absicht erreicht ist, schließt auch das Gedicht. Der Dichter überläßt hier nicht den Gegen- stand seiner eignen Bewegung, sondern er macht etwas aus ihm. Die Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit fehlt gänzlich, der Dichter meidet sogar die Stetigkeit und hat gleichsam beständig den Zustand seines gebildeten Cirkels vor Augen, den er durch die Einfalt der Er- zählung nicht beleidigen will. Sein Ausdruck ist daher auch künstlich,
kann bei dieſer Untrennbarkeit des Stoffs und der Form in einer geſetz- mäßigen Bildung wie die der griechiſchen Poeſie auch das Epos nur Eines ſeyn und kann höchſtens darin dem allgemeinen Geſetz der Er- ſcheinung folgen, daß es ſich in ſeiner Identität durch zwei verſchiedene Einheiten ausdrückt. Die Ilias und Odyſſee ſind nur die zwei Seiten eines und deſſelbigen Gedichts. Die Verſchiedenheit der Urheber kommt hier nicht in Betracht; ſie ſind durch ihre Natur eins und darum auch durch den gemeinſchaftlichen Namen Homeros vereinigt, der ſelbſt alle- goriſch und bedeutend iſt. Einige haben den Gegenſatz der Ilias und Odyſſee als den der aufgehenden und untergehenden Sonne dargeſtellt. Ich möchte die Ilias das centrifugale, die Odyſſee das centripetale Ge- dicht nennen.
Was die neueren im Sinn des alten Epos unternommenen Ge- dichte betrifft, ſo will ich den Uebergang zu dieſen durch eine kurze Vergleichung des Virgil mit Homer machen.
Man kann Virgil faſt nach allen angegebenen Beſtimmungen dem Homer entgegenſetzen. Die erſte gleich, die Schickſalloſigkeit des Epos betreffend, ſo hat ſich Virgil vielmehr beſtrebt in die Handlung Schick- ſal durch eine Art tragiſcher Verwicklung zu bringen. Die Beſtimmung des Epos, die Bewegung ganz allein in den Gegenſtand zu legen, iſt ebenſowenig erfüllt, da er nicht ſelten zur Theilnahme an ſeinem Gegen- ſtand herabſinkt. Die erhabene Zufälligkeit des Epos, deſſen Anfang und Ende ebenſo, wie die dunkle Zeit der Urwelt und die Zukunft unbeſtimmt iſt, iſt durch die Aeneis gänzlich aufgehoben. Sie hat einen beſtimmten Zweck, die Gründung des römiſchen Reichs von Troja ab- zuleiten, und dadurch dem Auguſtus zu ſchmeicheln. Dieſer Zweck iſt gleich anfangs beſtimmt verkündet, und wie die Abſicht erreicht iſt, ſchließt auch das Gedicht. Der Dichter überläßt hier nicht den Gegen- ſtand ſeiner eignen Bewegung, ſondern er macht etwas aus ihm. Die Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit fehlt gänzlich, der Dichter meidet ſogar die Stetigkeit und hat gleichſam beſtändig den Zuſtand ſeines gebildeten Cirkels vor Augen, den er durch die Einfalt der Er- zählung nicht beleidigen will. Sein Ausdruck iſt daher auch künſtlich,
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kann bei dieſer Untrennbarkeit des Stoffs und der Form in einer geſetz-
mäßigen Bildung wie die der griechiſchen Poeſie auch das Epos nur
Eines ſeyn und kann höchſtens darin dem allgemeinen Geſetz der Er-
ſcheinung folgen, daß es ſich in ſeiner Identität durch zwei verſchiedene
Einheiten ausdrückt. Die Ilias und Odyſſee ſind nur die zwei Seiten
eines und deſſelbigen Gedichts. Die Verſchiedenheit der Urheber kommt
hier nicht in Betracht; ſie ſind durch ihre Natur eins und darum auch
durch den gemeinſchaftlichen Namen Homeros vereinigt, der ſelbſt alle-
goriſch und bedeutend iſt. Einige haben den Gegenſatz der Ilias und
Odyſſee als den der aufgehenden und untergehenden Sonne dargeſtellt.
Ich möchte die Ilias das centrifugale, die Odyſſee das centripetale Ge-
dicht nennen.
Was die neueren im Sinn des alten Epos unternommenen Ge-
dichte betrifft, ſo will ich den Uebergang zu dieſen durch eine kurze
Vergleichung des Virgil mit Homer machen.
Man kann Virgil faſt nach allen angegebenen Beſtimmungen dem
Homer entgegenſetzen. Die erſte gleich, die Schickſalloſigkeit des Epos
betreffend, ſo hat ſich Virgil vielmehr beſtrebt in die Handlung Schick-
ſal durch eine Art tragiſcher Verwicklung zu bringen. Die Beſtimmung
des Epos, die Bewegung ganz allein in den Gegenſtand zu legen, iſt
ebenſowenig erfüllt, da er nicht ſelten zur Theilnahme an ſeinem Gegen-
ſtand herabſinkt. Die erhabene Zufälligkeit des Epos, deſſen Anfang
und Ende ebenſo, wie die dunkle Zeit der Urwelt und die Zukunft
unbeſtimmt iſt, iſt durch die Aeneis gänzlich aufgehoben. Sie hat einen
beſtimmten Zweck, die Gründung des römiſchen Reichs von Troja ab-
zuleiten, und dadurch dem Auguſtus zu ſchmeicheln. Dieſer Zweck iſt
gleich anfangs beſtimmt verkündet, und wie die Abſicht erreicht iſt,
ſchließt auch das Gedicht. Der Dichter überläßt hier nicht den Gegen-
ſtand ſeiner eignen Bewegung, ſondern er macht etwas aus ihm. Die
Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit fehlt gänzlich, der Dichter
meidet ſogar die Stetigkeit und hat gleichſam beſtändig den Zuſtand
ſeines gebildeten Cirkels vor Augen, den er durch die Einfalt der Er-
zählung nicht beleidigen will. Sein Ausdruck iſt daher auch künſtlich,
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/331>, abgerufen am 22.11.2024.
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