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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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selbst erscheint weder gerührt noch ungerührt, denn er erscheint über-
haupt nicht. In der weiten Umwölbung des Ganzen hat neben den
herrlichen Gestalten der Helden auch Thersites, sowie neben den großen
Gestalten der Unterwelt in der Odyssee auf der Oberwelt auch der
göttliche Sauhirt und der Hund des Odysseus seinen Platz.

Diesem geistigen, in dem ewigen Gleichgewicht der Seele schwe-
benden Rhythmus muß nun auch ein gleicher hörbarer Rhythmus ent-
sprechen. Aristoteles nennt den Hexameter das beständigste und
gewichtigste aller Sylbenmaße. Der Hexameter hat ebensowenig einen
fortreißenden, leidenschaftlichen, als einen verweilenden und zurückhal-
tenden Rhythmus; er drückt auch in diesem Gleichgewicht des Verwei-
lens und des Fortschreitens die Indifferenz aus, die dem ganzen Epos
zu Grunde liegt. Da nun noch überdieß der Hexameter in seiner
Identität wieder große Mannichfaltigkeit zuläßt, so ist er dadurch am
meisten geeignet sich dem Gegenstand anzuschließen, ohne ihm Gewalt
anzuthun, und insofern das objektivste aller Versmaaße.

Dieß sind die vorzüglichsten und auszeichnendsten Bestimmungen
des epischen Gedichts, von denen Sie eine mehr kritische und historische
Ausführung in der Recension von Göthes Hermann und Dorothea
von A. W. Schlegel finden können.

Nun noch von einigen besonderen Formen des Epos, dergleichen
die Reden, die Gleichnisse und die Episoden sind.

Der Dialog neigt sich seiner Natur nach und sich selbst über-
lassen zum Lyrischen hin, weil er mehr vom Selbstbewußtseyn aus und
an das Selbstbewußtseyn geht. Die Rede würde also den Charakter
des Epos selbst verändern, wenn nicht vielmehr umgekehrt ihr Charakter
nach dem des Epos modificirt wäre. Diese Modification muß sich nun
durch den Gegensatz gegen den eigenthümlichen Charakter der Rede
bestimmen. Dieser ist Beschränkung auf die Absicht der Rede und
darum Forteilen zum Ziel, wo etwas erreicht; Heftigkeit und Kürze,
wo Leidenschaft ausgedrückt werden soll. Dieß alles ist im Epos
gemäßigt und dem Hauptcharakter untergeordnet. Selbst in der leiden-
schaftlichsten Rede ist noch die epische Fülle und Umständlichkeit, der

ſelbſt erſcheint weder gerührt noch ungerührt, denn er erſcheint über-
haupt nicht. In der weiten Umwölbung des Ganzen hat neben den
herrlichen Geſtalten der Helden auch Therſites, ſowie neben den großen
Geſtalten der Unterwelt in der Odyſſee auf der Oberwelt auch der
göttliche Sauhirt und der Hund des Odyſſeus ſeinen Platz.

Dieſem geiſtigen, in dem ewigen Gleichgewicht der Seele ſchwe-
benden Rhythmus muß nun auch ein gleicher hörbarer Rhythmus ent-
ſprechen. Ariſtoteles nennt den Hexameter das beſtändigſte und
gewichtigſte aller Sylbenmaße. Der Hexameter hat ebenſowenig einen
fortreißenden, leidenſchaftlichen, als einen verweilenden und zurückhal-
tenden Rhythmus; er drückt auch in dieſem Gleichgewicht des Verwei-
lens und des Fortſchreitens die Indifferenz aus, die dem ganzen Epos
zu Grunde liegt. Da nun noch überdieß der Hexameter in ſeiner
Identität wieder große Mannichfaltigkeit zuläßt, ſo iſt er dadurch am
meiſten geeignet ſich dem Gegenſtand anzuſchließen, ohne ihm Gewalt
anzuthun, und inſofern das objektivſte aller Versmaaße.

Dieß ſind die vorzüglichſten und auszeichnendſten Beſtimmungen
des epiſchen Gedichts, von denen Sie eine mehr kritiſche und hiſtoriſche
Ausführung in der Recenſion von Göthes Hermann und Dorothea
von A. W. Schlegel finden können.

Nun noch von einigen beſonderen Formen des Epos, dergleichen
die Reden, die Gleichniſſe und die Epiſoden ſind.

Der Dialog neigt ſich ſeiner Natur nach und ſich ſelbſt über-
laſſen zum Lyriſchen hin, weil er mehr vom Selbſtbewußtſeyn aus und
an das Selbſtbewußtſeyn geht. Die Rede würde alſo den Charakter
des Epos ſelbſt verändern, wenn nicht vielmehr umgekehrt ihr Charakter
nach dem des Epos modificirt wäre. Dieſe Modification muß ſich nun
durch den Gegenſatz gegen den eigenthümlichen Charakter der Rede
beſtimmen. Dieſer iſt Beſchränkung auf die Abſicht der Rede und
darum Forteilen zum Ziel, wo etwas erreicht; Heftigkeit und Kürze,
wo Leidenſchaft ausgedrückt werden ſoll. Dieß alles iſt im Epos
gemäßigt und dem Hauptcharakter untergeordnet. Selbſt in der leiden-
ſchaftlichſten Rede iſt noch die epiſche Fülle und Umſtändlichkeit, der

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[653/0329] ſelbſt erſcheint weder gerührt noch ungerührt, denn er erſcheint über- haupt nicht. In der weiten Umwölbung des Ganzen hat neben den herrlichen Geſtalten der Helden auch Therſites, ſowie neben den großen Geſtalten der Unterwelt in der Odyſſee auf der Oberwelt auch der göttliche Sauhirt und der Hund des Odyſſeus ſeinen Platz. Dieſem geiſtigen, in dem ewigen Gleichgewicht der Seele ſchwe- benden Rhythmus muß nun auch ein gleicher hörbarer Rhythmus ent- ſprechen. Ariſtoteles nennt den Hexameter das beſtändigſte und gewichtigſte aller Sylbenmaße. Der Hexameter hat ebenſowenig einen fortreißenden, leidenſchaftlichen, als einen verweilenden und zurückhal- tenden Rhythmus; er drückt auch in dieſem Gleichgewicht des Verwei- lens und des Fortſchreitens die Indifferenz aus, die dem ganzen Epos zu Grunde liegt. Da nun noch überdieß der Hexameter in ſeiner Identität wieder große Mannichfaltigkeit zuläßt, ſo iſt er dadurch am meiſten geeignet ſich dem Gegenſtand anzuſchließen, ohne ihm Gewalt anzuthun, und inſofern das objektivſte aller Versmaaße. Dieß ſind die vorzüglichſten und auszeichnendſten Beſtimmungen des epiſchen Gedichts, von denen Sie eine mehr kritiſche und hiſtoriſche Ausführung in der Recenſion von Göthes Hermann und Dorothea von A. W. Schlegel finden können. Nun noch von einigen beſonderen Formen des Epos, dergleichen die Reden, die Gleichniſſe und die Epiſoden ſind. Der Dialog neigt ſich ſeiner Natur nach und ſich ſelbſt über- laſſen zum Lyriſchen hin, weil er mehr vom Selbſtbewußtſeyn aus und an das Selbſtbewußtſeyn geht. Die Rede würde alſo den Charakter des Epos ſelbſt verändern, wenn nicht vielmehr umgekehrt ihr Charakter nach dem des Epos modificirt wäre. Dieſe Modification muß ſich nun durch den Gegenſatz gegen den eigenthümlichen Charakter der Rede beſtimmen. Dieſer iſt Beſchränkung auf die Abſicht der Rede und darum Forteilen zum Ziel, wo etwas erreicht; Heftigkeit und Kürze, wo Leidenſchaft ausgedrückt werden ſoll. Dieß alles iſt im Epos gemäßigt und dem Hauptcharakter untergeordnet. Selbſt in der leiden- ſchaftlichſten Rede iſt noch die epiſche Fülle und Umſtändlichkeit, der

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/329>, abgerufen am 22.11.2024.