Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

im Epos. Im Epos fällt die Fortschreitung ganz in den Gegen-
stand, der ewig bewegt ist, die Ruhe aber in die Form der Dar-
stellung, wie im Gemälde, wo das stets Fortschreitende nur durch
die Darstellung fixirt ist. Das Verweilen, welches bei dem Gemälde
in den Gegenstand zu fallen scheint, fällt hier ins Subjekt zurück, und
dieß ist der Grund einer sogleich noch weiter zu erklärenden Eigenthüm-
lichkeit des Epos, daß ihm auch der Augenblick werth ist, daß es nicht
forteilt, eben deßwegen, weil das Subjekt ruht, gleichsam unangerührt
von der Zeit, außer ihr.

Wir werden uns also über die Art wie das Epos ein Bild der
Zeitlosigkeit des Handelns in seinem An-sich ist, so ausdrücken können:
das, was selbst in keiner Zeit ist, faßt alle Zeit in sich, und umge-
kehrt, ist aber deßwegen indifferent gegen die Zeit. Diese Indiffe-
renz gegen die Zeit ist der Grundcharakter des Epos
. Es
ist gleich der absoluten Einheit, innerhalb der alles ist, wird und wech-
selt, die aber selbst keinem Wechsel unterworfen ist. Die Kette der
Ursachen und Wirkungen reicht ins Unendliche zurück, aber das, was
diese Reihe der Succession selbst wieder in sich schließt, liegt nicht mit
in der Reihe, sondern ist außer aller Zeit.

Die weiteren Bestimmungen ergeben sich nun von selbst und sind
gewissermaßen die bloße Folge der eben angegebenen. Nämlich

3) da die Absolutheit nicht auf der Extension, sondern auf der
Idee beruht, und daher in dem An-sich alles gleich absolut und das
Ganze nicht absoluter ist als der Theil, so muß auch diese Bestimmung
auf das Epos übergehen. Es ist also der Anfang wie das Ende in
dem Epos gleich absolut, und inwiefern überhaupt das Nichtbedingte
sich in der Erscheinung als Zufälligkeit darstellt, erscheint beides als
zufällig. Die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes ist also in
dem Epos der Ausdruck seiner Unendlichkeit und Absolutheit. Mit
Recht ist derjenige Sänger, der den trojanischen Krieg von dem Ei der
Leda anfangen wollte, dadurch zum Sprichwort geworden. Es ist
gegen die Natur und Idee des Epos, daß es rückwärts oder vorwärts
bedingt erscheine. In der Succession der Dinge, wie sie im Absoluten

im Epos. Im Epos fällt die Fortſchreitung ganz in den Gegen-
ſtand, der ewig bewegt iſt, die Ruhe aber in die Form der Dar-
ſtellung, wie im Gemälde, wo das ſtets Fortſchreitende nur durch
die Darſtellung fixirt iſt. Das Verweilen, welches bei dem Gemälde
in den Gegenſtand zu fallen ſcheint, fällt hier ins Subjekt zurück, und
dieß iſt der Grund einer ſogleich noch weiter zu erklärenden Eigenthüm-
lichkeit des Epos, daß ihm auch der Augenblick werth iſt, daß es nicht
forteilt, eben deßwegen, weil das Subjekt ruht, gleichſam unangerührt
von der Zeit, außer ihr.

Wir werden uns alſo über die Art wie das Epos ein Bild der
Zeitloſigkeit des Handelns in ſeinem An-ſich iſt, ſo ausdrücken können:
das, was ſelbſt in keiner Zeit iſt, faßt alle Zeit in ſich, und umge-
kehrt, iſt aber deßwegen indifferent gegen die Zeit. Dieſe Indiffe-
renz gegen die Zeit iſt der Grundcharakter des Epos
. Es
iſt gleich der abſoluten Einheit, innerhalb der alles iſt, wird und wech-
ſelt, die aber ſelbſt keinem Wechſel unterworfen iſt. Die Kette der
Urſachen und Wirkungen reicht ins Unendliche zurück, aber das, was
dieſe Reihe der Succeſſion ſelbſt wieder in ſich ſchließt, liegt nicht mit
in der Reihe, ſondern iſt außer aller Zeit.

Die weiteren Beſtimmungen ergeben ſich nun von ſelbſt und ſind
gewiſſermaßen die bloße Folge der eben angegebenen. Nämlich

3) da die Abſolutheit nicht auf der Extenſion, ſondern auf der
Idee beruht, und daher in dem An-ſich alles gleich abſolut und das
Ganze nicht abſoluter iſt als der Theil, ſo muß auch dieſe Beſtimmung
auf das Epos übergehen. Es iſt alſo der Anfang wie das Ende in
dem Epos gleich abſolut, und inwiefern überhaupt das Nichtbedingte
ſich in der Erſcheinung als Zufälligkeit darſtellt, erſcheint beides als
zufällig. Die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes iſt alſo in
dem Epos der Ausdruck ſeiner Unendlichkeit und Abſolutheit. Mit
Recht iſt derjenige Sänger, der den trojaniſchen Krieg von dem Ei der
Leda anfangen wollte, dadurch zum Sprichwort geworden. Es iſt
gegen die Natur und Idee des Epos, daß es rückwärts oder vorwärts
bedingt erſcheine. In der Succeſſion der Dinge, wie ſie im Abſoluten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0326" n="650"/>
im Epos. Im Epos fällt die Fort&#x017F;chreitung ganz in den Gegen-<lb/>
&#x017F;tand, der ewig bewegt i&#x017F;t, die Ruhe aber in die Form der Dar-<lb/>
&#x017F;tellung, wie im Gemälde, wo das &#x017F;tets Fort&#x017F;chreitende nur durch<lb/>
die Dar&#x017F;tellung fixirt i&#x017F;t. Das Verweilen, welches bei dem Gemälde<lb/>
in den Gegen&#x017F;tand zu fallen &#x017F;cheint, fällt hier ins Subjekt zurück, und<lb/>
dieß i&#x017F;t der Grund einer &#x017F;ogleich noch weiter zu erklärenden Eigenthüm-<lb/>
lichkeit des Epos, daß ihm auch der Augenblick werth i&#x017F;t, daß es nicht<lb/>
forteilt, eben deßwegen, weil das Subjekt ruht, gleich&#x017F;am unangerührt<lb/>
von der Zeit, außer ihr.</p><lb/>
              <p>Wir werden uns al&#x017F;o über die Art wie das Epos ein Bild der<lb/>
Zeitlo&#x017F;igkeit des Handelns in &#x017F;einem An-&#x017F;ich i&#x017F;t, &#x017F;o ausdrücken können:<lb/>
das, was &#x017F;elb&#x017F;t in keiner Zeit i&#x017F;t, faßt alle Zeit in &#x017F;ich, und umge-<lb/>
kehrt, i&#x017F;t aber deßwegen indifferent gegen die Zeit. <hi rendition="#g">Die&#x017F;e Indiffe-<lb/>
renz gegen die Zeit i&#x017F;t der Grundcharakter des Epos</hi>. Es<lb/>
i&#x017F;t gleich der ab&#x017F;oluten Einheit, innerhalb der alles i&#x017F;t, wird und wech-<lb/>
&#x017F;elt, die aber &#x017F;elb&#x017F;t keinem Wech&#x017F;el unterworfen i&#x017F;t. Die Kette der<lb/>
Ur&#x017F;achen und Wirkungen reicht ins Unendliche zurück, aber das, was<lb/>
die&#x017F;e Reihe der Succe&#x017F;&#x017F;ion &#x017F;elb&#x017F;t wieder in &#x017F;ich &#x017F;chließt, liegt nicht mit<lb/>
in der Reihe, &#x017F;ondern i&#x017F;t außer aller Zeit.</p><lb/>
              <p>Die weiteren Be&#x017F;timmungen ergeben &#x017F;ich nun von &#x017F;elb&#x017F;t und &#x017F;ind<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen die bloße Folge der eben angegebenen. Nämlich</p><lb/>
              <p>3) da die Ab&#x017F;olutheit nicht auf der Exten&#x017F;ion, &#x017F;ondern auf der<lb/>
Idee beruht, und daher in dem An-&#x017F;ich alles gleich ab&#x017F;olut und das<lb/>
Ganze nicht ab&#x017F;oluter i&#x017F;t als der Theil, &#x017F;o muß auch die&#x017F;e Be&#x017F;timmung<lb/>
auf das Epos übergehen. Es i&#x017F;t al&#x017F;o der Anfang wie das Ende in<lb/>
dem Epos gleich ab&#x017F;olut, und inwiefern überhaupt das Nichtbedingte<lb/>
&#x017F;ich in der Er&#x017F;cheinung als <hi rendition="#g">Zufälligkeit</hi> dar&#x017F;tellt, er&#x017F;cheint beides als<lb/><hi rendition="#g">zufällig</hi>. Die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes i&#x017F;t al&#x017F;o in<lb/>
dem Epos der Ausdruck &#x017F;einer Unendlichkeit und Ab&#x017F;olutheit. Mit<lb/>
Recht i&#x017F;t derjenige Sänger, der den trojani&#x017F;chen Krieg von dem Ei der<lb/>
Leda anfangen wollte, dadurch zum Sprichwort geworden. Es i&#x017F;t<lb/>
gegen die Natur und Idee des Epos, daß es rückwärts oder vorwärts<lb/>
bedingt er&#x017F;cheine. In der Succe&#x017F;&#x017F;ion der Dinge, wie &#x017F;ie im Ab&#x017F;oluten<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[650/0326] im Epos. Im Epos fällt die Fortſchreitung ganz in den Gegen- ſtand, der ewig bewegt iſt, die Ruhe aber in die Form der Dar- ſtellung, wie im Gemälde, wo das ſtets Fortſchreitende nur durch die Darſtellung fixirt iſt. Das Verweilen, welches bei dem Gemälde in den Gegenſtand zu fallen ſcheint, fällt hier ins Subjekt zurück, und dieß iſt der Grund einer ſogleich noch weiter zu erklärenden Eigenthüm- lichkeit des Epos, daß ihm auch der Augenblick werth iſt, daß es nicht forteilt, eben deßwegen, weil das Subjekt ruht, gleichſam unangerührt von der Zeit, außer ihr. Wir werden uns alſo über die Art wie das Epos ein Bild der Zeitloſigkeit des Handelns in ſeinem An-ſich iſt, ſo ausdrücken können: das, was ſelbſt in keiner Zeit iſt, faßt alle Zeit in ſich, und umge- kehrt, iſt aber deßwegen indifferent gegen die Zeit. Dieſe Indiffe- renz gegen die Zeit iſt der Grundcharakter des Epos. Es iſt gleich der abſoluten Einheit, innerhalb der alles iſt, wird und wech- ſelt, die aber ſelbſt keinem Wechſel unterworfen iſt. Die Kette der Urſachen und Wirkungen reicht ins Unendliche zurück, aber das, was dieſe Reihe der Succeſſion ſelbſt wieder in ſich ſchließt, liegt nicht mit in der Reihe, ſondern iſt außer aller Zeit. Die weiteren Beſtimmungen ergeben ſich nun von ſelbſt und ſind gewiſſermaßen die bloße Folge der eben angegebenen. Nämlich 3) da die Abſolutheit nicht auf der Extenſion, ſondern auf der Idee beruht, und daher in dem An-ſich alles gleich abſolut und das Ganze nicht abſoluter iſt als der Theil, ſo muß auch dieſe Beſtimmung auf das Epos übergehen. Es iſt alſo der Anfang wie das Ende in dem Epos gleich abſolut, und inwiefern überhaupt das Nichtbedingte ſich in der Erſcheinung als Zufälligkeit darſtellt, erſcheint beides als zufällig. Die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes iſt alſo in dem Epos der Ausdruck ſeiner Unendlichkeit und Abſolutheit. Mit Recht iſt derjenige Sänger, der den trojaniſchen Krieg von dem Ei der Leda anfangen wollte, dadurch zum Sprichwort geworden. Es iſt gegen die Natur und Idee des Epos, daß es rückwärts oder vorwärts bedingt erſcheine. In der Succeſſion der Dinge, wie ſie im Abſoluten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/326
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/326>, abgerufen am 22.11.2024.