Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

das Epos Darstellung des Ruhenden durch Bewegung sey, so daß die
Bewegung in die Poesie und die Ruhe in den Gegenstand fiele, so
würde dieß sogleich den epischen Charakter aufheben, es entstünde da-
durch die beschreibende Dichtart, das sogenannte poetische Gemälde, und
fremder kann dem Epos nichts seyn als dieses. Es ist ein widerstre-
bender Anblick, den beschreibenden Dichter sich anstrengen und bewegen
zu sehen, während der Gegenstand immer unbeweglich bleibt. Weßhalb
selbst da, wo das Epos das Ruhende beschreibt, das Ruhende selbst in
Bewegung und Fortschreitung verwandelt werden muß. Beispiel: Schild
des Achilles, obwohl auch nach andern Gründen dieses Stück der Ilias
zu den spätesten gehört.

Wenn wir nun jedoch auf den allgemeinen Typus reflektiren, der
den Formen der Kunst zu Grunde liegt, so finden wir, daß das Epos
in der Poesie dem Gemälde in der bildenden Kunst entspreche. Wie
dieses, so ist auch jenes Darstellung des Besondern im Allgemeinen,
des Endlichen im Unendlichen. Wie in diesem Licht und Nichtlicht in
Eine identische Masse zusammen fließt, so in jenem auch Besonderheit
und Allgemeinheit. Wie in diesem die Fläche herrschend ist, so breitet
sich auch das Epos nach allen Seiten wie ein Ocean aus, der Länder
und Völker verbindet. Wie ist nun dieses Verhältniß zu begreifen?
Der Gegenstand des Gemäldes, könnte man einwenden, ist ruhig, in
dem des Epos dagegen ein stetiger Fortschritt. Allein in diesem Ein-
wurf wird das, was die bloße Grenze der Malerei ist, zu ihrem
Wesen gemacht. Objektiv angesehen ist das, was wir den Gegenstand
im Gemälde nennen können, nicht ohne Fortschreitung; es ist nur
ein -- subjektiv -- fixirter Moment, aber wir sehen besonders bei
affektvollen Gegenständen, aber überhaupt im historischen Gemälde, daß
der nächste Moment alle Verhältnisse ändert, aber dieser nächste Moment
ist nicht dargestellt, alle Figuren des Gemäldes bleiben in ihrer Stel-
lung; es ist ein empirisch zur Ewigkeit gemachter Moment. Man kann
aber wegen dieser in gegenwärtigem Betracht bloß zufälligen Begrenzung
nicht sagen, der Gegenstand ruhe; vielmehr schreitet er fort, nur ist
uns der nächste Moment entzogen. Es ist dasselbe Verhältniß wie

das Epos Darſtellung des Ruhenden durch Bewegung ſey, ſo daß die
Bewegung in die Poeſie und die Ruhe in den Gegenſtand fiele, ſo
würde dieß ſogleich den epiſchen Charakter aufheben, es entſtünde da-
durch die beſchreibende Dichtart, das ſogenannte poetiſche Gemälde, und
fremder kann dem Epos nichts ſeyn als dieſes. Es iſt ein widerſtre-
bender Anblick, den beſchreibenden Dichter ſich anſtrengen und bewegen
zu ſehen, während der Gegenſtand immer unbeweglich bleibt. Weßhalb
ſelbſt da, wo das Epos das Ruhende beſchreibt, das Ruhende ſelbſt in
Bewegung und Fortſchreitung verwandelt werden muß. Beiſpiel: Schild
des Achilles, obwohl auch nach andern Gründen dieſes Stück der Ilias
zu den ſpäteſten gehört.

Wenn wir nun jedoch auf den allgemeinen Typus reflektiren, der
den Formen der Kunſt zu Grunde liegt, ſo finden wir, daß das Epos
in der Poeſie dem Gemälde in der bildenden Kunſt entſpreche. Wie
dieſes, ſo iſt auch jenes Darſtellung des Beſondern im Allgemeinen,
des Endlichen im Unendlichen. Wie in dieſem Licht und Nichtlicht in
Eine identiſche Maſſe zuſammen fließt, ſo in jenem auch Beſonderheit
und Allgemeinheit. Wie in dieſem die Fläche herrſchend iſt, ſo breitet
ſich auch das Epos nach allen Seiten wie ein Ocean aus, der Länder
und Völker verbindet. Wie iſt nun dieſes Verhältniß zu begreifen?
Der Gegenſtand des Gemäldes, könnte man einwenden, iſt ruhig, in
dem des Epos dagegen ein ſtetiger Fortſchritt. Allein in dieſem Ein-
wurf wird das, was die bloße Grenze der Malerei iſt, zu ihrem
Weſen gemacht. Objektiv angeſehen iſt das, was wir den Gegenſtand
im Gemälde nennen können, nicht ohne Fortſchreitung; es iſt nur
ein — ſubjektiv — fixirter Moment, aber wir ſehen beſonders bei
affektvollen Gegenſtänden, aber überhaupt im hiſtoriſchen Gemälde, daß
der nächſte Moment alle Verhältniſſe ändert, aber dieſer nächſte Moment
iſt nicht dargeſtellt, alle Figuren des Gemäldes bleiben in ihrer Stel-
lung; es iſt ein empiriſch zur Ewigkeit gemachter Moment. Man kann
aber wegen dieſer in gegenwärtigem Betracht bloß zufälligen Begrenzung
nicht ſagen, der Gegenſtand ruhe; vielmehr ſchreitet er fort, nur iſt
uns der nächſte Moment entzogen. Es iſt daſſelbe Verhältniß wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0325" n="649"/>
das Epos Dar&#x017F;tellung des Ruhenden durch Bewegung &#x017F;ey, &#x017F;o daß die<lb/>
Bewegung in die Poe&#x017F;ie und die Ruhe in den Gegen&#x017F;tand fiele, &#x017F;o<lb/>
würde dieß &#x017F;ogleich den epi&#x017F;chen Charakter aufheben, es ent&#x017F;tünde da-<lb/>
durch die be&#x017F;chreibende Dichtart, das &#x017F;ogenannte poeti&#x017F;che Gemälde, und<lb/>
fremder kann dem Epos nichts &#x017F;eyn als die&#x017F;es. Es i&#x017F;t ein wider&#x017F;tre-<lb/>
bender Anblick, den be&#x017F;chreibenden Dichter &#x017F;ich an&#x017F;trengen und bewegen<lb/>
zu &#x017F;ehen, während der Gegen&#x017F;tand immer unbeweglich bleibt. Weßhalb<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t da, wo das Epos das Ruhende be&#x017F;chreibt, das Ruhende &#x017F;elb&#x017F;t in<lb/>
Bewegung und Fort&#x017F;chreitung verwandelt werden muß. Bei&#x017F;piel: Schild<lb/>
des Achilles, obwohl auch nach andern Gründen die&#x017F;es Stück der Ilias<lb/>
zu den &#x017F;päte&#x017F;ten gehört.</p><lb/>
              <p>Wenn wir nun jedoch auf den allgemeinen Typus reflektiren, der<lb/>
den Formen der Kun&#x017F;t zu Grunde liegt, &#x017F;o finden wir, daß das Epos<lb/>
in der Poe&#x017F;ie dem Gemälde in der bildenden Kun&#x017F;t ent&#x017F;preche. Wie<lb/>
die&#x017F;es, &#x017F;o i&#x017F;t auch jenes Dar&#x017F;tellung des Be&#x017F;ondern im Allgemeinen,<lb/>
des Endlichen im Unendlichen. Wie in die&#x017F;em Licht und Nichtlicht in<lb/>
Eine identi&#x017F;che Ma&#x017F;&#x017F;e zu&#x017F;ammen fließt, &#x017F;o in jenem auch Be&#x017F;onderheit<lb/>
und Allgemeinheit. Wie in die&#x017F;em die Fläche herr&#x017F;chend i&#x017F;t, &#x017F;o breitet<lb/>
&#x017F;ich auch das Epos nach allen Seiten wie ein Ocean aus, der Länder<lb/>
und Völker verbindet. Wie i&#x017F;t nun die&#x017F;es Verhältniß zu begreifen?<lb/>
Der Gegen&#x017F;tand des Gemäldes, könnte man einwenden, i&#x017F;t ruhig, in<lb/>
dem des Epos dagegen ein &#x017F;tetiger Fort&#x017F;chritt. Allein in die&#x017F;em Ein-<lb/>
wurf wird das, was die bloße Grenze der Malerei i&#x017F;t, zu ihrem<lb/>
We&#x017F;en gemacht. Objektiv ange&#x017F;ehen i&#x017F;t das, was wir den Gegen&#x017F;tand<lb/>
im Gemälde nennen können, nicht ohne Fort&#x017F;chreitung; es i&#x017F;t nur<lb/>
ein &#x2014; &#x017F;ubjektiv &#x2014; fixirter Moment, aber wir &#x017F;ehen be&#x017F;onders bei<lb/>
affektvollen Gegen&#x017F;tänden, aber überhaupt im hi&#x017F;tori&#x017F;chen Gemälde, daß<lb/>
der näch&#x017F;te Moment alle Verhältni&#x017F;&#x017F;e ändert, aber die&#x017F;er näch&#x017F;te Moment<lb/>
i&#x017F;t nicht darge&#x017F;tellt, alle Figuren des Gemäldes bleiben in ihrer Stel-<lb/>
lung; es i&#x017F;t ein empiri&#x017F;ch zur Ewigkeit gemachter Moment. Man kann<lb/>
aber wegen die&#x017F;er in gegenwärtigem Betracht bloß zufälligen Begrenzung<lb/>
nicht &#x017F;agen, der Gegen&#x017F;tand ruhe; vielmehr &#x017F;chreitet er fort, nur i&#x017F;t<lb/>
uns der näch&#x017F;te Moment entzogen. Es i&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe Verhältniß wie<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[649/0325] das Epos Darſtellung des Ruhenden durch Bewegung ſey, ſo daß die Bewegung in die Poeſie und die Ruhe in den Gegenſtand fiele, ſo würde dieß ſogleich den epiſchen Charakter aufheben, es entſtünde da- durch die beſchreibende Dichtart, das ſogenannte poetiſche Gemälde, und fremder kann dem Epos nichts ſeyn als dieſes. Es iſt ein widerſtre- bender Anblick, den beſchreibenden Dichter ſich anſtrengen und bewegen zu ſehen, während der Gegenſtand immer unbeweglich bleibt. Weßhalb ſelbſt da, wo das Epos das Ruhende beſchreibt, das Ruhende ſelbſt in Bewegung und Fortſchreitung verwandelt werden muß. Beiſpiel: Schild des Achilles, obwohl auch nach andern Gründen dieſes Stück der Ilias zu den ſpäteſten gehört. Wenn wir nun jedoch auf den allgemeinen Typus reflektiren, der den Formen der Kunſt zu Grunde liegt, ſo finden wir, daß das Epos in der Poeſie dem Gemälde in der bildenden Kunſt entſpreche. Wie dieſes, ſo iſt auch jenes Darſtellung des Beſondern im Allgemeinen, des Endlichen im Unendlichen. Wie in dieſem Licht und Nichtlicht in Eine identiſche Maſſe zuſammen fließt, ſo in jenem auch Beſonderheit und Allgemeinheit. Wie in dieſem die Fläche herrſchend iſt, ſo breitet ſich auch das Epos nach allen Seiten wie ein Ocean aus, der Länder und Völker verbindet. Wie iſt nun dieſes Verhältniß zu begreifen? Der Gegenſtand des Gemäldes, könnte man einwenden, iſt ruhig, in dem des Epos dagegen ein ſtetiger Fortſchritt. Allein in dieſem Ein- wurf wird das, was die bloße Grenze der Malerei iſt, zu ihrem Weſen gemacht. Objektiv angeſehen iſt das, was wir den Gegenſtand im Gemälde nennen können, nicht ohne Fortſchreitung; es iſt nur ein — ſubjektiv — fixirter Moment, aber wir ſehen beſonders bei affektvollen Gegenſtänden, aber überhaupt im hiſtoriſchen Gemälde, daß der nächſte Moment alle Verhältniſſe ändert, aber dieſer nächſte Moment iſt nicht dargeſtellt, alle Figuren des Gemäldes bleiben in ihrer Stel- lung; es iſt ein empiriſch zur Ewigkeit gemachter Moment. Man kann aber wegen dieſer in gegenwärtigem Betracht bloß zufälligen Begrenzung nicht ſagen, der Gegenſtand ruhe; vielmehr ſchreitet er fort, nur iſt uns der nächſte Moment entzogen. Es iſt daſſelbe Verhältniß wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/325
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 649. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/325>, abgerufen am 22.11.2024.