Es ist höchst auffallend, wenn man das homerische Epos selbst mit den frühesten Werken der lyrischen Poesie vergleicht, in ihm durchaus keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln der Menschen bewegt sich von der einen Seite betrachtet in der reinen Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der absoluten Identität der Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe verschließt, ist noch nicht gebrochen, nirgends ist Empörung gegen das Schicksal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil diese selbst nicht über- und außernatürlich sind, sondern mit in den Kreis menschlicher Begebenheiten fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer schon die schwarzen Keren und das Verhängniß kenne, dem selbst Zeus und die andern Götter unterworfen sind. Dieß ist wahr, aber das Verhängniß er- scheint eben deßwegen noch nicht als Schicksal, weil kein Widerstreit dagegen erscheint. Götter und Menschen, die ganze Welt, die das Epos umfaßt, sind in der höchsten Identität mit ihm dargestellt. Aeußerst bedeutend ist in dieser Rücksicht die Stelle im 16. Gesang der Ilias, 1 wo Zeus seinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:
Einen sterblichen Mann längst auserseh'n dem Verhängniß Denkst du anjetzt von des Tods grau'nvoller Gewalt zu erlösen.
Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:
Auf, wofern du ihn liebst und deine Seel' ihn betrauert, Siehe, so laß ihn zwar im Ungestümme der Feldschlacht Sterben -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Aber sobald ihn verlassen der Geist und der Odem des Lebens, Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe, Bis sie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes, Wo ihn rühmlich bestatten die Brüder zugleich und Verwandten, Mit Grabhügel und Säule; denn das ist Ehre der Todten.
In dieser Stelle erscheint das Verhängniß in der Milde einer stillen Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerstreit gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und
1 442 ff.
Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß er- ſcheint eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, 1 wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:
Einen ſterblichen Mann längſt auserſeh’n dem Verhängniß Denkſt du anjetzt von des Tods grau’nvoller Gewalt zu erlöſen.
Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:
Auf, wofern du ihn liebſt und deine Seel’ ihn betrauert, Siehe, ſo laß ihn zwar im Ungeſtümme der Feldſchlacht Sterben — — — — — — — — — — — — — Aber ſobald ihn verlaſſen der Geiſt und der Odem des Lebens, Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe, Bis ſie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes, Wo ihn rühmlich beſtatten die Brüder zugleich und Verwandten, Mit Grabhügel und Säule; denn das iſt Ehre der Todten.
In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und
1 442 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0323"n="647"/><p>Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt<lb/>
mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus<lb/>
keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln<lb/>
der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen<lb/>
Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der<lb/>
Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe<lb/>
verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das<lb/>
Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und<lb/>
außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten<lb/>
fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen<lb/>
Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern<lb/>
Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß <hirendition="#g">er-<lb/>ſcheint</hi> eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit<lb/>
dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das<lb/>
Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt<lb/>
bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, <noteplace="foot"n="1">442 ff.</note><lb/>
wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und<lb/>
vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Einen ſterblichen Mann längſt auserſeh’n dem Verhängniß</l><lb/><l>Denkſt du anjetzt von des Tods grau’nvoller Gewalt zu erlöſen.</l></lg><lb/><p>Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon<lb/>
lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Auf, wofern du ihn liebſt und deine Seel’ ihn betrauert,</l><lb/><l>Siehe, ſo laß ihn zwar im Ungeſtümme der Feldſchlacht</l><lb/><l>Sterben —————————————</l><lb/><l>Aber ſobald ihn verlaſſen der Geiſt und der Odem des Lebens,</l><lb/><l>Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe,</l><lb/><l>Bis ſie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes,</l><lb/><l>Wo ihn rühmlich beſtatten die Brüder zugleich und Verwandten,</l><lb/><l>Mit Grabhügel und Säule; denn das iſt Ehre der Todten.</l></lg><lb/><p>In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen<lb/>
Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit<lb/>
gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[647/0323]
Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt
mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus
keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln
der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen
Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der
Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe
verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das
Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und
außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten
fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen
Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern
Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß er-
ſcheint eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit
dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das
Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt
bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, 1
wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und
vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:
Einen ſterblichen Mann längſt auserſeh’n dem Verhängniß
Denkſt du anjetzt von des Tods grau’nvoller Gewalt zu erlöſen.
Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon
lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:
Auf, wofern du ihn liebſt und deine Seel’ ihn betrauert,
Siehe, ſo laß ihn zwar im Ungeſtümme der Feldſchlacht
Sterben — — — — — — — — — — — — —
Aber ſobald ihn verlaſſen der Geiſt und der Odem des Lebens,
Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe,
Bis ſie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes,
Wo ihn rühmlich beſtatten die Brüder zugleich und Verwandten,
Mit Grabhügel und Säule; denn das iſt Ehre der Todten.
In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen
Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit
gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und
1 442 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/323>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.