dargestellt werden kann, die Geschichte aber irrational, unerschöpflich, ihr verborgenes Gesetz nur in Manifestationen aussprechend, ebenso verhält es sich mit der bildenden und der redenden Kunst. Wie in der Natur Nothwendigkeit als das Allgemeine das Besondere beherrscht, in der idealen Welt dagegen das Besondere entfesselt, frei zu dem Unendlichen strebt, so in bildender und redender Kunst. Daher uns in Betrachtung der Poesie erstens unmöglich ist, das Allgemeine so durch Construktion fort ins Besondere zu führen, wie in der bildenden Kunst. Denn die Besonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine, was hier ausgesprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen und in ganzen Massen ausgesprochen werden. Dagegen je weniger das Allgemeine das Besondere hier gebietend bestimmt, desto mehr verlangt zweitens das Einzelne in seiner Absolutheit dargestellt zu werden. Daher wird die Darstellung hier mehr zur Charakteristik auch von Individuen herabsteigen.
Uebrigens werde ich mich nicht so sehr bei dem Einzelnen, als nur bei den Hauptsachen verweilen, und kann aus diesem Grunde auch nicht mehr einzelne Sätze, sondern nur Ansichten im Ganzen darstellen.
Ich werde nun zuerst die Frage beantworten: wodurch wird die Rede zur Poesie? Es wird in dieser Frage a) von dem An-sich der Poesie, soweit es nicht schon im Vorhergehenden bestimmt ist, b) von den Formen die Rede seyn müssen, wodurch sich die Poesie als solche von der Rede absondert, also vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß u. s. w. Hierauf werden wir die besonderen in der Grundeinheit der Poesie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht- kunst, deren vornehmste die lyrische, epische und dramatische sind, im Allgemeinen zu construiren haben, und dann jede dieser Gattungen ins- besondere behandeln müssen.
Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der schönen Künste nachsieht, findet man sie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine sogenannte Definition von der Dichtkunst zu geben, und in denjenigen, welche sie geben, ist nicht einmal die Form der Poesie, geschweige das Wesen derselben ausgedrückt. Das Erste aber zur Erkenntniß der Poesie
dargeſtellt werden kann, die Geſchichte aber irrational, unerſchöpflich, ihr verborgenes Geſetz nur in Manifeſtationen ausſprechend, ebenſo verhält es ſich mit der bildenden und der redenden Kunſt. Wie in der Natur Nothwendigkeit als das Allgemeine das Beſondere beherrſcht, in der idealen Welt dagegen das Beſondere entfeſſelt, frei zu dem Unendlichen ſtrebt, ſo in bildender und redender Kunſt. Daher uns in Betrachtung der Poeſie erſtens unmöglich iſt, das Allgemeine ſo durch Conſtruktion fort ins Beſondere zu führen, wie in der bildenden Kunſt. Denn die Beſonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine, was hier ausgeſprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen und in ganzen Maſſen ausgeſprochen werden. Dagegen je weniger das Allgemeine das Beſondere hier gebietend beſtimmt, deſto mehr verlangt zweitens das Einzelne in ſeiner Abſolutheit dargeſtellt zu werden. Daher wird die Darſtellung hier mehr zur Charakteriſtik auch von Individuen herabſteigen.
Uebrigens werde ich mich nicht ſo ſehr bei dem Einzelnen, als nur bei den Hauptſachen verweilen, und kann aus dieſem Grunde auch nicht mehr einzelne Sätze, ſondern nur Anſichten im Ganzen darſtellen.
Ich werde nun zuerſt die Frage beantworten: wodurch wird die Rede zur Poeſie? Es wird in dieſer Frage a) von dem An-ſich der Poeſie, ſoweit es nicht ſchon im Vorhergehenden beſtimmt iſt, b) von den Formen die Rede ſeyn müſſen, wodurch ſich die Poeſie als ſolche von der Rede abſondert, alſo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß u. ſ. w. Hierauf werden wir die beſonderen in der Grundeinheit der Poeſie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht- kunſt, deren vornehmſte die lyriſche, epiſche und dramatiſche ſind, im Allgemeinen zu conſtruiren haben, und dann jede dieſer Gattungen ins- beſondere behandeln müſſen.
Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der ſchönen Künſte nachſieht, findet man ſie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine ſogenannte Definition von der Dichtkunſt zu geben, und in denjenigen, welche ſie geben, iſt nicht einmal die Form der Poeſie, geſchweige das Weſen derſelben ausgedrückt. Das Erſte aber zur Erkenntniß der Poeſie
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dargeſtellt werden kann, die Geſchichte aber irrational, unerſchöpflich, ihr
verborgenes Geſetz nur in Manifeſtationen ausſprechend, ebenſo verhält
es ſich mit der bildenden und der redenden Kunſt. Wie in der Natur
Nothwendigkeit als das Allgemeine das Beſondere beherrſcht, in der
idealen Welt dagegen das Beſondere entfeſſelt, frei zu dem Unendlichen
ſtrebt, ſo in bildender und redender Kunſt. Daher uns in Betrachtung
der Poeſie erſtens unmöglich iſt, das Allgemeine ſo durch Conſtruktion
fort ins Beſondere zu führen, wie in der bildenden Kunſt. Denn die
Beſonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine,
was hier ausgeſprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen
und in ganzen Maſſen ausgeſprochen werden. Dagegen je weniger das
Allgemeine das Beſondere hier gebietend beſtimmt, deſto mehr verlangt
zweitens das Einzelne in ſeiner Abſolutheit dargeſtellt zu werden. Daher
wird die Darſtellung hier mehr zur Charakteriſtik auch von Individuen
herabſteigen.
Uebrigens werde ich mich nicht ſo ſehr bei dem Einzelnen, als nur
bei den Hauptſachen verweilen, und kann aus dieſem Grunde auch nicht
mehr einzelne Sätze, ſondern nur Anſichten im Ganzen darſtellen.
Ich werde nun zuerſt die Frage beantworten: wodurch wird die
Rede zur Poeſie? Es wird in dieſer Frage a) von dem An-ſich
der Poeſie, ſoweit es nicht ſchon im Vorhergehenden beſtimmt iſt, b) von
den Formen die Rede ſeyn müſſen, wodurch ſich die Poeſie als ſolche
von der Rede abſondert, alſo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß
u. ſ. w. Hierauf werden wir die beſonderen in der Grundeinheit der
Poeſie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht-
kunſt, deren vornehmſte die lyriſche, epiſche und dramatiſche ſind, im
Allgemeinen zu conſtruiren haben, und dann jede dieſer Gattungen ins-
beſondere behandeln müſſen.
Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der ſchönen Künſte nachſieht,
findet man ſie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine
ſogenannte Definition von der Dichtkunſt zu geben, und in denjenigen,
welche ſie geben, iſt nicht einmal die Form der Poeſie, geſchweige das
Weſen derſelben ausgedrückt. Das Erſte aber zur Erkenntniß der Poeſie
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/309>, abgerufen am 22.11.2024.
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