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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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2. Die beiden Seiten des absolut-Idealen sind wesentlich eins;
denn, was in der einen real, ist in der andern nur ideal ausgedrückt
und umgekehrt; beide sind also, getrennt betrachtet, nur die verschie-
denen Erscheinungsweisen von Einem und demselbigen.

Die Natur in der Getrenntheit von der anderen Einheit (in der
die Form in das Wesen gebildet wird) erscheint mehr als geschaffene,
die ideale als schaffende; in dem einen ist aber eben deßwegen und
nothwendig das, was in dem anderen. Die Natur ist nach §. 74
(Allg. Zus.) die plastische Seite, ihr Bild ist die Niobe der plastischen
Kunst, die mit ihren Kindern erstarrt, die ideale Welt die Poesie des
Universums. Dort verhüllt sich das göttliche Princip in ein anderes,
ein Seyn, hier erscheint es als das, was es ist, als Leben und Han-
deln. Allein dieser Unterschied ist wieder ein bloßer Formunterschied,
wie anfänglich in Ansehung der bildenden und redenden Kunst bewiesen
worden. Die Natur ist an sich betrachtet wieder das Ursprünglichste,
das erste Gedicht der göttlichen Imagination. Die Alten und nach
ihnen die Neuern nannten die reale Welt natura rerum, die
Geburt der Dinge. In ihr werden die ewigen Dinge, nämlich die
Ideen zuerst wirklich, und inwiefern sie die aufgeschlossene Ideenwelt ist,
enthält sie die wahren Urbilder der Poesie. Aller Unterschied zwischen
bildender und redender Kunst kann daher nur in Folgendem beruhen.

Alle Kunst ist unmittelbares Nachbild der absoluten Produktion
oder der absoluten Selbstaffirmation; die bildende nur läßt sie nicht
als ein Ideales erscheinen, sondern durch ein anderes, und dem-
nach als ein Reales. Die Poesie dagegen, indem sie dem Wesen nach
dasselbe ist, was die bildende Kunst ist, läßt jenen absoluten Erkenntniß-
akt unmittelbar als Erkenntnißakt erscheinen, und ist insofern die höhere
Potenz der bildenden Kunst, als sie in dem Gegenbild selbst noch die Natur
und den Charakter des Idealen, des Wesens, des Allgemeinen beibe-
hält. Das, wodurch die bildende Kunst ihre Ideen ausdrückt, ist ein
an sich Concretes; das, wodurch die redende, ein an sich Allgemei-
nes
, nämlich die Sprache. Deßwegen hat die Poesie vorzugsweise den
Namen der Poesie, d. h. der Erschaffung behalten, weil ihre Werke

2. Die beiden Seiten des abſolut-Idealen ſind weſentlich eins;
denn, was in der einen real, iſt in der andern nur ideal ausgedrückt
und umgekehrt; beide ſind alſo, getrennt betrachtet, nur die verſchie-
denen Erſcheinungsweiſen von Einem und demſelbigen.

Die Natur in der Getrenntheit von der anderen Einheit (in der
die Form in das Weſen gebildet wird) erſcheint mehr als geſchaffene,
die ideale als ſchaffende; in dem einen iſt aber eben deßwegen und
nothwendig das, was in dem anderen. Die Natur iſt nach §. 74
(Allg. Zuſ.) die plaſtiſche Seite, ihr Bild iſt die Niobe der plaſtiſchen
Kunſt, die mit ihren Kindern erſtarrt, die ideale Welt die Poeſie des
Univerſums. Dort verhüllt ſich das göttliche Princip in ein anderes,
ein Seyn, hier erſcheint es als das, was es iſt, als Leben und Han-
deln. Allein dieſer Unterſchied iſt wieder ein bloßer Formunterſchied,
wie anfänglich in Anſehung der bildenden und redenden Kunſt bewieſen
worden. Die Natur iſt an ſich betrachtet wieder das Urſprünglichſte,
das erſte Gedicht der göttlichen Imagination. Die Alten und nach
ihnen die Neuern nannten die reale Welt natura rerum, die
Geburt der Dinge. In ihr werden die ewigen Dinge, nämlich die
Ideen zuerſt wirklich, und inwiefern ſie die aufgeſchloſſene Ideenwelt iſt,
enthält ſie die wahren Urbilder der Poeſie. Aller Unterſchied zwiſchen
bildender und redender Kunſt kann daher nur in Folgendem beruhen.

Alle Kunſt iſt unmittelbares Nachbild der abſoluten Produktion
oder der abſoluten Selbſtaffirmation; die bildende nur läßt ſie nicht
als ein Ideales erſcheinen, ſondern durch ein anderes, und dem-
nach als ein Reales. Die Poeſie dagegen, indem ſie dem Weſen nach
daſſelbe iſt, was die bildende Kunſt iſt, läßt jenen abſoluten Erkenntniß-
akt unmittelbar als Erkenntnißakt erſcheinen, und iſt inſofern die höhere
Potenz der bildenden Kunſt, als ſie in dem Gegenbild ſelbſt noch die Natur
und den Charakter des Idealen, des Weſens, des Allgemeinen beibe-
hält. Das, wodurch die bildende Kunſt ihre Ideen ausdrückt, iſt ein
an ſich Concretes; das, wodurch die redende, ein an ſich Allgemei-
nes
, nämlich die Sprache. Deßwegen hat die Poeſie vorzugsweiſe den
Namen der Poeſie, d. h. der Erſchaffung behalten, weil ihre Werke

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[631/0307] 2. Die beiden Seiten des abſolut-Idealen ſind weſentlich eins; denn, was in der einen real, iſt in der andern nur ideal ausgedrückt und umgekehrt; beide ſind alſo, getrennt betrachtet, nur die verſchie- denen Erſcheinungsweiſen von Einem und demſelbigen. Die Natur in der Getrenntheit von der anderen Einheit (in der die Form in das Weſen gebildet wird) erſcheint mehr als geſchaffene, die ideale als ſchaffende; in dem einen iſt aber eben deßwegen und nothwendig das, was in dem anderen. Die Natur iſt nach §. 74 (Allg. Zuſ.) die plaſtiſche Seite, ihr Bild iſt die Niobe der plaſtiſchen Kunſt, die mit ihren Kindern erſtarrt, die ideale Welt die Poeſie des Univerſums. Dort verhüllt ſich das göttliche Princip in ein anderes, ein Seyn, hier erſcheint es als das, was es iſt, als Leben und Han- deln. Allein dieſer Unterſchied iſt wieder ein bloßer Formunterſchied, wie anfänglich in Anſehung der bildenden und redenden Kunſt bewieſen worden. Die Natur iſt an ſich betrachtet wieder das Urſprünglichſte, das erſte Gedicht der göttlichen Imagination. Die Alten und nach ihnen die Neuern nannten die reale Welt natura rerum, die Geburt der Dinge. In ihr werden die ewigen Dinge, nämlich die Ideen zuerſt wirklich, und inwiefern ſie die aufgeſchloſſene Ideenwelt iſt, enthält ſie die wahren Urbilder der Poeſie. Aller Unterſchied zwiſchen bildender und redender Kunſt kann daher nur in Folgendem beruhen. Alle Kunſt iſt unmittelbares Nachbild der abſoluten Produktion oder der abſoluten Selbſtaffirmation; die bildende nur läßt ſie nicht als ein Ideales erſcheinen, ſondern durch ein anderes, und dem- nach als ein Reales. Die Poeſie dagegen, indem ſie dem Weſen nach daſſelbe iſt, was die bildende Kunſt iſt, läßt jenen abſoluten Erkenntniß- akt unmittelbar als Erkenntnißakt erſcheinen, und iſt inſofern die höhere Potenz der bildenden Kunſt, als ſie in dem Gegenbild ſelbſt noch die Natur und den Charakter des Idealen, des Weſens, des Allgemeinen beibe- hält. Das, wodurch die bildende Kunſt ihre Ideen ausdrückt, iſt ein an ſich Concretes; das, wodurch die redende, ein an ſich Allgemei- nes, nämlich die Sprache. Deßwegen hat die Poeſie vorzugsweiſe den Namen der Poeſie, d. h. der Erſchaffung behalten, weil ihre Werke

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/307>, abgerufen am 25.11.2024.