für sich selbst eine Gottheit sey, gesetzt, daß auch noch kein Name für sie existire, und daß die Plastik, wenn sie nur sich selbst überlassen alle Möglichkeiten, die in jener höchsten und absoluten Indifferenz beschlossen liegen, als Wirklichkeiten darstellte, dadurch von sich selbst den ganzen Kreis göttlicher Bildungen erfüllen und die Götter erfinden müßte, wenn sie nicht wären. Von der anderen Seite betrachtet, muß man sagen, daß, da das Wesen des griechischen Polytheismus (nach dem, was §. 30 ff. bewiesen wurde) in der reinen Begrenzung von der einen und der ungetheilten Absolutheit von der andern Seite bestand, da ferner diese Götterwelt in sich wieder eine Totalität, ein beschlossenes System bildete, eben dadurch auch die Möglichkeit für die plastische Kunst begründet war sich frühzeitig zu begrenzen, ihre Gegenstände in streng abgesonderte Formen zu fassen, und ein ebenso in sich beschlosse- nes System der Götterbildungen zu entwerfen, als es schon zuvor in der Mythologie vorhanden war. Die plastische Kunst der Griechen bildet eben deßwegen für sich wieder eine Welt, der, wie sie nach innen vollendet ist, ebenso auch nach außen nichts gebricht, worin alle Mög- lichkeiten erfüllt, alle Formen gesondert und strenge bestimmt sind. Das Ansehen des Jupiter, des Neptunus und aller männlichen Gottheiten war ein für immer bestimmtes, ebenso das der weiblichen Gottheiten. (Vollkommene Aehnlichkeit der Köpfe auf allen Münzen.) Dadurch wurde die Kunst gleichsam canonisch und exemplarisch; es gab keine Wahl mehr in ihr, das Nothwendige herrschte.
§. 130. Die Werke der plastischen Kunst werden vor- zugsweise die Charaktere der Ideen in ihrer Absolutheit an sich tragen. -- Unmittelbare Folge aus dem Vorhergehenden.
Erläuterung. Das Wesen der Ideen ist, daß in ihnen Möglichkeit und Wirklichkeit jederzeit oder vielmehr ohne Zeit eins sind, daß sie alles, was sie seyn können, in der That und zumal sind. Dadurch entsteht die höchste Befriedigung, und -- weil in diesem Zu- stand kein Mangel, kein Gebrechen denkbar, also nichts vorhanden ist, wodurch sie aus ihrer Ruhe weichen könnten -- das höchste Gleich- gewicht und die tiefste Ruhe in der höchsten Thätigkeit.
für ſich ſelbſt eine Gottheit ſey, geſetzt, daß auch noch kein Name für ſie exiſtire, und daß die Plaſtik, wenn ſie nur ſich ſelbſt überlaſſen alle Möglichkeiten, die in jener höchſten und abſoluten Indifferenz beſchloſſen liegen, als Wirklichkeiten darſtellte, dadurch von ſich ſelbſt den ganzen Kreis göttlicher Bildungen erfüllen und die Götter erfinden müßte, wenn ſie nicht wären. Von der anderen Seite betrachtet, muß man ſagen, daß, da das Weſen des griechiſchen Polytheismus (nach dem, was §. 30 ff. bewieſen wurde) in der reinen Begrenzung von der einen und der ungetheilten Abſolutheit von der andern Seite beſtand, da ferner dieſe Götterwelt in ſich wieder eine Totalität, ein beſchloſſenes Syſtem bildete, eben dadurch auch die Möglichkeit für die plaſtiſche Kunſt begründet war ſich frühzeitig zu begrenzen, ihre Gegenſtände in ſtreng abgeſonderte Formen zu faſſen, und ein ebenſo in ſich beſchloſſe- nes Syſtem der Götterbildungen zu entwerfen, als es ſchon zuvor in der Mythologie vorhanden war. Die plaſtiſche Kunſt der Griechen bildet eben deßwegen für ſich wieder eine Welt, der, wie ſie nach innen vollendet iſt, ebenſo auch nach außen nichts gebricht, worin alle Mög- lichkeiten erfüllt, alle Formen geſondert und ſtrenge beſtimmt ſind. Das Anſehen des Jupiter, des Neptunus und aller männlichen Gottheiten war ein für immer beſtimmtes, ebenſo das der weiblichen Gottheiten. (Vollkommene Aehnlichkeit der Köpfe auf allen Münzen.) Dadurch wurde die Kunſt gleichſam canoniſch und exemplariſch; es gab keine Wahl mehr in ihr, das Nothwendige herrſchte.
§. 130. Die Werke der plaſtiſchen Kunſt werden vor- zugsweiſe die Charaktere der Ideen in ihrer Abſolutheit an ſich tragen. — Unmittelbare Folge aus dem Vorhergehenden.
Erläuterung. Das Weſen der Ideen iſt, daß in ihnen Möglichkeit und Wirklichkeit jederzeit oder vielmehr ohne Zeit eins ſind, daß ſie alles, was ſie ſeyn können, in der That und zumal ſind. Dadurch entſteht die höchſte Befriedigung, und — weil in dieſem Zu- ſtand kein Mangel, kein Gebrechen denkbar, alſo nichts vorhanden iſt, wodurch ſie aus ihrer Ruhe weichen könnten — das höchſte Gleich- gewicht und die tiefſte Ruhe in der höchſten Thätigkeit.
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für ſich ſelbſt eine Gottheit ſey, geſetzt, daß auch noch kein Name für
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beſchloſſen liegen, als Wirklichkeiten darſtellte, dadurch von ſich ſelbſt
den ganzen Kreis göttlicher Bildungen erfüllen und die Götter erfinden
müßte, wenn ſie nicht wären. Von der anderen Seite betrachtet, muß
man ſagen, daß, da das Weſen des griechiſchen Polytheismus (nach
dem, was §. 30 ff. bewieſen wurde) in der reinen Begrenzung von der
einen und der ungetheilten Abſolutheit von der andern Seite beſtand,
da ferner dieſe Götterwelt in ſich wieder eine Totalität, ein beſchloſſenes
Syſtem bildete, eben dadurch auch die Möglichkeit für die plaſtiſche
Kunſt begründet war ſich frühzeitig zu begrenzen, ihre Gegenſtände in
ſtreng abgeſonderte Formen zu faſſen, und ein ebenſo in ſich beſchloſſe-
nes Syſtem der Götterbildungen zu entwerfen, als es ſchon zuvor in
der Mythologie vorhanden war. Die plaſtiſche Kunſt der Griechen
bildet eben deßwegen für ſich wieder eine Welt, der, wie ſie nach innen
vollendet iſt, ebenſo auch nach außen nichts gebricht, worin alle Mög-
lichkeiten erfüllt, alle Formen geſondert und ſtrenge beſtimmt ſind. Das
Anſehen des Jupiter, des Neptunus und aller männlichen Gottheiten
war ein für immer beſtimmtes, ebenſo das der weiblichen Gottheiten.
(Vollkommene Aehnlichkeit der Köpfe auf allen Münzen.) Dadurch
wurde die Kunſt gleichſam canoniſch und exemplariſch; es gab keine
Wahl mehr in ihr, das Nothwendige herrſchte.
§. 130. Die Werke der plaſtiſchen Kunſt werden vor-
zugsweiſe die Charaktere der Ideen in ihrer Abſolutheit
an ſich tragen. — Unmittelbare Folge aus dem Vorhergehenden.
Erläuterung. Das Weſen der Ideen iſt, daß in ihnen
Möglichkeit und Wirklichkeit jederzeit oder vielmehr ohne Zeit eins ſind,
daß ſie alles, was ſie ſeyn können, in der That und zumal ſind.
Dadurch entſteht die höchſte Befriedigung, und — weil in dieſem Zu-
ſtand kein Mangel, kein Gebrechen denkbar, alſo nichts vorhanden iſt,
wodurch ſie aus ihrer Ruhe weichen könnten — das höchſte Gleich-
gewicht und die tiefſte Ruhe in der höchſten Thätigkeit.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/298>, abgerufen am 25.11.2024.
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