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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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und nur Form des an sich Unendlichen. Als solche stellt es sich in den
plastischen Werken dar, wie Winkelmann in der vorhin angeführten
Stelle sagt, der Bildner des Apollon habe nur so viel Materie zu
diesem Werke genommen, als nöthig gewesen, seine geistige Absicht
auszudrücken. Die Materie und der Begriff sind hier wahrhaft eins;
jene ist nur der in Objektivität verwandelte Begriff, also er selbst, nur
von einer andern Seite angesehen.

§. 126. In der Plastik hört die geometrische Regel-
mäßigkeit auf herrschend zu seyn
. -- Denn hier ist nicht eine
endliche, mit dem bloßen Verstande, sondern eine unendliche, nur mit
der Vernunft zu fassende Gesetzmäßigkeit, die zugleich die Freiheit ist.
In Bezug auf endliche Gesetzmäßigkeit ist alle Plastik transscendent.

Die Malerei ist ihr (der geometrischen Regelmäßigkeit) noch unter-
worfen dadurch, daß sie eine endliche, beschränkte Wahrheit darstellt.
Die Malerei hat einzig darum die Linienperspektive zu beobachten, weil
sie auf einen endlichen Gesichtspunkt beschränkt ist. Die Plastik geht
auf eine allseitige, demnach unendliche Wahrheit. So wenig die For-
men des menschlichen Leibs an und für sich selbst durch jene endliche
Gesetzmäßigkeit bestimmbar sind, so wenig die des plastischen Kunstwerks.
Wenn man die Formen eines schönen Körpers auf Linien ausdrücken
will, so sind es solche, die ihren Mittelpunkt beständig verändern, und
fortgeführt niemals eine regelmäßige Figur wie den Cirkel beschreiben.
Es ist dadurch eine größere Mannichfaltigkeit zugleich und Einheit gesetzt.
Größere Mannichfaltigkeit, denn der Cirkel z. B. ist immer sich selbst
gleich. Größere Einheit, denn man setze, daß das Gebäude des Leibes
aus Formen bestehe, die dem Cirkel gleichen, so würde eine die andere
ausschließen, keine aus der andern mit Stetigkeit herfließen, dagegen
in einem schönen organischen Leib jede Form als der unmittelbare Aus-
fluß der andern erscheint, eben deßwegen, weil keine insbesondere eine
beschränkte ist.

§. 127. Die Plastik kann vorzugsweise kolossal bil-
den
. -- Dieß ist nämlich der Fall in Vergleichung mit der Malerei
und dem Basrelief. Grund: weil ganz unabhängig von einem Raume

und nur Form des an ſich Unendlichen. Als ſolche ſtellt es ſich in den
plaſtiſchen Werken dar, wie Winkelmann in der vorhin angeführten
Stelle ſagt, der Bildner des Apollon habe nur ſo viel Materie zu
dieſem Werke genommen, als nöthig geweſen, ſeine geiſtige Abſicht
auszudrücken. Die Materie und der Begriff ſind hier wahrhaft eins;
jene iſt nur der in Objektivität verwandelte Begriff, alſo er ſelbſt, nur
von einer andern Seite angeſehen.

§. 126. In der Plaſtik hört die geometriſche Regel-
mäßigkeit auf herrſchend zu ſeyn
. — Denn hier iſt nicht eine
endliche, mit dem bloßen Verſtande, ſondern eine unendliche, nur mit
der Vernunft zu faſſende Geſetzmäßigkeit, die zugleich die Freiheit iſt.
In Bezug auf endliche Geſetzmäßigkeit iſt alle Plaſtik transſcendent.

Die Malerei iſt ihr (der geometriſchen Regelmäßigkeit) noch unter-
worfen dadurch, daß ſie eine endliche, beſchränkte Wahrheit darſtellt.
Die Malerei hat einzig darum die Linienperſpektive zu beobachten, weil
ſie auf einen endlichen Geſichtspunkt beſchränkt iſt. Die Plaſtik geht
auf eine allſeitige, demnach unendliche Wahrheit. So wenig die For-
men des menſchlichen Leibs an und für ſich ſelbſt durch jene endliche
Geſetzmäßigkeit beſtimmbar ſind, ſo wenig die des plaſtiſchen Kunſtwerks.
Wenn man die Formen eines ſchönen Körpers auf Linien ausdrücken
will, ſo ſind es ſolche, die ihren Mittelpunkt beſtändig verändern, und
fortgeführt niemals eine regelmäßige Figur wie den Cirkel beſchreiben.
Es iſt dadurch eine größere Mannichfaltigkeit zugleich und Einheit geſetzt.
Größere Mannichfaltigkeit, denn der Cirkel z. B. iſt immer ſich ſelbſt
gleich. Größere Einheit, denn man ſetze, daß das Gebäude des Leibes
aus Formen beſtehe, die dem Cirkel gleichen, ſo würde eine die andere
ausſchließen, keine aus der andern mit Stetigkeit herfließen, dagegen
in einem ſchönen organiſchen Leib jede Form als der unmittelbare Aus-
fluß der andern erſcheint, eben deßwegen, weil keine insbeſondere eine
beſchränkte iſt.

§. 127. Die Plaſtik kann vorzugsweiſe koloſſal bil-
den
. — Dieß iſt nämlich der Fall in Vergleichung mit der Malerei
und dem Basrelief. Grund: weil ganz unabhängig von einem Raume

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[619/0295] und nur Form des an ſich Unendlichen. Als ſolche ſtellt es ſich in den plaſtiſchen Werken dar, wie Winkelmann in der vorhin angeführten Stelle ſagt, der Bildner des Apollon habe nur ſo viel Materie zu dieſem Werke genommen, als nöthig geweſen, ſeine geiſtige Abſicht auszudrücken. Die Materie und der Begriff ſind hier wahrhaft eins; jene iſt nur der in Objektivität verwandelte Begriff, alſo er ſelbſt, nur von einer andern Seite angeſehen. §. 126. In der Plaſtik hört die geometriſche Regel- mäßigkeit auf herrſchend zu ſeyn. — Denn hier iſt nicht eine endliche, mit dem bloßen Verſtande, ſondern eine unendliche, nur mit der Vernunft zu faſſende Geſetzmäßigkeit, die zugleich die Freiheit iſt. In Bezug auf endliche Geſetzmäßigkeit iſt alle Plaſtik transſcendent. Die Malerei iſt ihr (der geometriſchen Regelmäßigkeit) noch unter- worfen dadurch, daß ſie eine endliche, beſchränkte Wahrheit darſtellt. Die Malerei hat einzig darum die Linienperſpektive zu beobachten, weil ſie auf einen endlichen Geſichtspunkt beſchränkt iſt. Die Plaſtik geht auf eine allſeitige, demnach unendliche Wahrheit. So wenig die For- men des menſchlichen Leibs an und für ſich ſelbſt durch jene endliche Geſetzmäßigkeit beſtimmbar ſind, ſo wenig die des plaſtiſchen Kunſtwerks. Wenn man die Formen eines ſchönen Körpers auf Linien ausdrücken will, ſo ſind es ſolche, die ihren Mittelpunkt beſtändig verändern, und fortgeführt niemals eine regelmäßige Figur wie den Cirkel beſchreiben. Es iſt dadurch eine größere Mannichfaltigkeit zugleich und Einheit geſetzt. Größere Mannichfaltigkeit, denn der Cirkel z. B. iſt immer ſich ſelbſt gleich. Größere Einheit, denn man ſetze, daß das Gebäude des Leibes aus Formen beſtehe, die dem Cirkel gleichen, ſo würde eine die andere ausſchließen, keine aus der andern mit Stetigkeit herfließen, dagegen in einem ſchönen organiſchen Leib jede Form als der unmittelbare Aus- fluß der andern erſcheint, eben deßwegen, weil keine insbeſondere eine beſchränkte iſt. §. 127. Die Plaſtik kann vorzugsweiſe koloſſal bil- den. — Dieß iſt nämlich der Fall in Vergleichung mit der Malerei und dem Basrelief. Grund: weil ganz unabhängig von einem Raume

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/295>, abgerufen am 22.11.2024.