widerhallen. Durch ihre erste Anlage ist sie zu einem vollkommen leiten- den Medium der Aeußerungen der Seele gemacht, und da die Kunst überhaupt, die Plastik aber insbesondere Ideen, die über die Materie erhaben sind, dennoch durch äußere Erscheinung darzustellen hat, so ist überhaupt kein Gegenstand der bildenden Kunst angemessener, als die menschliche Gestalt, der unmittelbare Abdruck der Seele und der Vernunft.
§. 124. Die plastische Kunst ist vorzüglich nach drei Kategorien erkennbar. Die erste ist die Wahrheit oder das rein Nothwendige, welches im Einzelnen auf Dar- stellung der Formen geht. Die zweite ist die Anmuth, welche auf Maß und Verhältniß beruht. Die dritte, als die Synthesis der beiden ersten, ist die vollendete Schöu- heit selbst.
Anmerkung. Das Nothwendige oder die Schönheit der For- men kann überhaupt als die reale Form, demnach als das rein Rhyty- mische oder die Zeichnung in der Plastik gedacht werden. -- Die An- muth oder Schönheit der Verhältnisse ist das Ideale; es entspricht dem Helldunkel der Malerei (obschon es ganz von ihm verschieden ist) und der Harmonie in der Musik. Die vollendete Schönheit oder die Schönheit der Formen und der Verhältnisse zugleich ist in der Plastik wieder das rein Plastische.
Die Erläuterung, die ich von diesen Sätzen gebe, wird fast ganz historisch seyn müssen. Es sind nämlich die angegebenen Kate- gorien dieselben, welche die Bildung der Kunst wirklich durchlaufen hat (bei den Griechen). Der allerälteste Styl war, wie Winkelmann sagt, in der Zeichnung nachdrücklich aber hart, mächtig aber ohne Grazie, und so, daß der starke Ausdruck die Schönheit verminderte. Schon nach dieser Beschreibung, noch mehr aber durch den Anblick solcher Werke, z. B. geschnittener Steine dieser Zeit, ist offenbar, daß in ihnen das rein Nothwendige, die Strenge und Wahrheit das Herrschende war. Die Strenge, Bestimmtheit muß in allem Kunstbestreben der Anmuth vorangehen. Wir sehen, daß dieß der Fall in der Malerei gewesen ist, und daß die Meister, die das Zeitalter des Raphael gegründet haben,
Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 39
widerhallen. Durch ihre erſte Anlage iſt ſie zu einem vollkommen leiten- den Medium der Aeußerungen der Seele gemacht, und da die Kunſt überhaupt, die Plaſtik aber insbeſondere Ideen, die über die Materie erhaben ſind, dennoch durch äußere Erſcheinung darzuſtellen hat, ſo iſt überhaupt kein Gegenſtand der bildenden Kunſt angemeſſener, als die menſchliche Geſtalt, der unmittelbare Abdruck der Seele und der Vernunft.
§. 124. Die plaſtiſche Kunſt iſt vorzüglich nach drei Kategorien erkennbar. Die erſte iſt die Wahrheit oder das rein Nothwendige, welches im Einzelnen auf Dar- ſtellung der Formen geht. Die zweite iſt die Anmuth, welche auf Maß und Verhältniß beruht. Die dritte, als die Syntheſis der beiden erſten, iſt die vollendete Schöu- heit ſelbſt.
Anmerkung. Das Nothwendige oder die Schönheit der For- men kann überhaupt als die reale Form, demnach als das rein Rhyty- miſche oder die Zeichnung in der Plaſtik gedacht werden. — Die An- muth oder Schönheit der Verhältniſſe iſt das Ideale; es entſpricht dem Helldunkel der Malerei (obſchon es ganz von ihm verſchieden iſt) und der Harmonie in der Muſik. Die vollendete Schönheit oder die Schönheit der Formen und der Verhältniſſe zugleich iſt in der Plaſtik wieder das rein Plaſtiſche.
Die Erläuterung, die ich von dieſen Sätzen gebe, wird faſt ganz hiſtoriſch ſeyn müſſen. Es ſind nämlich die angegebenen Kate- gorien dieſelben, welche die Bildung der Kunſt wirklich durchlaufen hat (bei den Griechen). Der allerälteſte Styl war, wie Winkelmann ſagt, in der Zeichnung nachdrücklich aber hart, mächtig aber ohne Grazie, und ſo, daß der ſtarke Ausdruck die Schönheit verminderte. Schon nach dieſer Beſchreibung, noch mehr aber durch den Anblick ſolcher Werke, z. B. geſchnittener Steine dieſer Zeit, iſt offenbar, daß in ihnen das rein Nothwendige, die Strenge und Wahrheit das Herrſchende war. Die Strenge, Beſtimmtheit muß in allem Kunſtbeſtreben der Anmuth vorangehen. Wir ſehen, daß dieß der Fall in der Malerei geweſen iſt, und daß die Meiſter, die das Zeitalter des Raphael gegründet haben,
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 39
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erhaben ſind, dennoch durch äußere Erſcheinung darzuſtellen hat, ſo iſt
überhaupt kein Gegenſtand der bildenden Kunſt angemeſſener, als die
menſchliche Geſtalt, der unmittelbare Abdruck der Seele und der Vernunft.
§. 124. Die plaſtiſche Kunſt iſt vorzüglich nach drei
Kategorien erkennbar. Die erſte iſt die Wahrheit oder
das rein Nothwendige, welches im Einzelnen auf Dar-
ſtellung der Formen geht. Die zweite iſt die Anmuth,
welche auf Maß und Verhältniß beruht. Die dritte, als
die Syntheſis der beiden erſten, iſt die vollendete Schöu-
heit ſelbſt.
Anmerkung. Das Nothwendige oder die Schönheit der For-
men kann überhaupt als die reale Form, demnach als das rein Rhyty-
miſche oder die Zeichnung in der Plaſtik gedacht werden. — Die An-
muth oder Schönheit der Verhältniſſe iſt das Ideale; es entſpricht dem
Helldunkel der Malerei (obſchon es ganz von ihm verſchieden iſt) und
der Harmonie in der Muſik. Die vollendete Schönheit oder die
Schönheit der Formen und der Verhältniſſe zugleich iſt in der Plaſtik
wieder das rein Plaſtiſche.
Die Erläuterung, die ich von dieſen Sätzen gebe, wird faſt
ganz hiſtoriſch ſeyn müſſen. Es ſind nämlich die angegebenen Kate-
gorien dieſelben, welche die Bildung der Kunſt wirklich durchlaufen hat
(bei den Griechen). Der allerälteſte Styl war, wie Winkelmann ſagt,
in der Zeichnung nachdrücklich aber hart, mächtig aber ohne Grazie,
und ſo, daß der ſtarke Ausdruck die Schönheit verminderte. Schon nach
dieſer Beſchreibung, noch mehr aber durch den Anblick ſolcher Werke,
z. B. geſchnittener Steine dieſer Zeit, iſt offenbar, daß in ihnen das
rein Nothwendige, die Strenge und Wahrheit das Herrſchende war.
Die Strenge, Beſtimmtheit muß in allem Kunſtbeſtreben der Anmuth
vorangehen. Wir ſehen, daß dieß der Fall in der Malerei geweſen iſt,
und daß die Meiſter, die das Zeitalter des Raphael gegründet haben,
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/285>, abgerufen am 22.11.2024.
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