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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Rücksicht erscheinen die Thiere in der Sculptur in der Verbindung mit
andern Werken derselben, z. B. der Architektur, wie die ehemaligen
Löwen auf dem St. Markusplatz zu Venedig oder andere Thiergestalten,
die vor die Eingänge der Paläste oder Kirchen gleichsam als Hüter
gesetzt werden, wohin auch die noch symbolischeren oder bedeutenderen
Gestalten der Sphinxe gehören. Ebenso die Pferde einer Quadrige
als architektonischer Zierath auf dem Gipfel eines Gebäudes, eines
Tempels, eines Portals u. s. w.

Es versteht sich von selbst, daß die Plastik Thiergestalten bilden
kann, sobald diese mit zur Darstellung des eigentlichen Gegenstandes
gehören, wie z. B. in Basreliefs, die Opferfeste vorstellen, oder die
Schlangen in der Gruppe des Laokoon.

c) Bisweilen bildet die Plastik Thiere als Attribute oder Neben-
bezeichnungen, so den Adler zu den Füßen des Jupiter, der oft auch
auf den Gipfel seiner Tempel gesetzt wurde, den Tiger in dem Zuge
des Bakchos, die Pferde am Sonnenwagen u. s. w.

Symbolische Bedeutung der menschlichen Gestalt.

Erstens: Die aufrechte Stellung bei gänzlicher Losgerissenheit
von der Erde. -- Im organischen Naturreich kommt die aufgerich-
tete Stellung nur der Pflanze zu, aber sie ist in der Cohäsion
mit der Erde. In dem Thierreich, welches den Uebergang von der
Pflanze zum Menschen macht, tritt sehr bedeutend die horizontale Stel-
lung ein (es ist eine allmähliche Umkehrung der Pflanze). Mit der
horizontalen Stellung ist die Abhängigkeit von der Erde angedeutet.
Der Theil des Leibs, welcher die Werkzeuge der Nahrung in sich
schließt, bildet ein förmliches Gewicht, wodurch der ganze Leib nieder-
gezogen wird. Die Bedeutung der aufrechten Gestalt ist also wirklich
die, welche schon in Ovids Metamorphosen 1 bezeichnet ist:

Os homini sublime dedit caelumque tueri
Jussit, et erectos ad sidera tollere voltus.

Zweitens: Symmetrischer Bau -- und zwar so, daß die Linie,
welche die zwei Hälften scheidet, auch perpendikular gegen die Erde

1 I, 85. 86.

Rückſicht erſcheinen die Thiere in der Sculptur in der Verbindung mit
andern Werken derſelben, z. B. der Architektur, wie die ehemaligen
Löwen auf dem St. Markusplatz zu Venedig oder andere Thiergeſtalten,
die vor die Eingänge der Paläſte oder Kirchen gleichſam als Hüter
geſetzt werden, wohin auch die noch ſymboliſcheren oder bedeutenderen
Geſtalten der Sphinxe gehören. Ebenſo die Pferde einer Quadrige
als architektoniſcher Zierath auf dem Gipfel eines Gebäudes, eines
Tempels, eines Portals u. ſ. w.

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Plaſtik Thiergeſtalten bilden
kann, ſobald dieſe mit zur Darſtellung des eigentlichen Gegenſtandes
gehören, wie z. B. in Basreliefs, die Opferfeſte vorſtellen, oder die
Schlangen in der Gruppe des Laokoon.

c) Bisweilen bildet die Plaſtik Thiere als Attribute oder Neben-
bezeichnungen, ſo den Adler zu den Füßen des Jupiter, der oft auch
auf den Gipfel ſeiner Tempel geſetzt wurde, den Tiger in dem Zuge
des Bakchos, die Pferde am Sonnenwagen u. ſ. w.

Symboliſche Bedeutung der menſchlichen Geſtalt.

Erſtens: Die aufrechte Stellung bei gänzlicher Losgeriſſenheit
von der Erde. — Im organiſchen Naturreich kommt die aufgerich-
tete Stellung nur der Pflanze zu, aber ſie iſt in der Cohäſion
mit der Erde. In dem Thierreich, welches den Uebergang von der
Pflanze zum Menſchen macht, tritt ſehr bedeutend die horizontale Stel-
lung ein (es iſt eine allmähliche Umkehrung der Pflanze). Mit der
horizontalen Stellung iſt die Abhängigkeit von der Erde angedeutet.
Der Theil des Leibs, welcher die Werkzeuge der Nahrung in ſich
ſchließt, bildet ein förmliches Gewicht, wodurch der ganze Leib nieder-
gezogen wird. Die Bedeutung der aufrechten Geſtalt iſt alſo wirklich
die, welche ſchon in Ovids Metamorphoſen 1 bezeichnet iſt:

Os homini sublime dedit caelumque tueri
Jussit, et erectos ad sidera tollere voltus.

Zweitens: Symmetriſcher Bau — und zwar ſo, daß die Linie,
welche die zwei Hälften ſcheidet, auch perpendikular gegen die Erde

1 I, 85. 86.
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[604/0280] Rückſicht erſcheinen die Thiere in der Sculptur in der Verbindung mit andern Werken derſelben, z. B. der Architektur, wie die ehemaligen Löwen auf dem St. Markusplatz zu Venedig oder andere Thiergeſtalten, die vor die Eingänge der Paläſte oder Kirchen gleichſam als Hüter geſetzt werden, wohin auch die noch ſymboliſcheren oder bedeutenderen Geſtalten der Sphinxe gehören. Ebenſo die Pferde einer Quadrige als architektoniſcher Zierath auf dem Gipfel eines Gebäudes, eines Tempels, eines Portals u. ſ. w. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Plaſtik Thiergeſtalten bilden kann, ſobald dieſe mit zur Darſtellung des eigentlichen Gegenſtandes gehören, wie z. B. in Basreliefs, die Opferfeſte vorſtellen, oder die Schlangen in der Gruppe des Laokoon. c) Bisweilen bildet die Plaſtik Thiere als Attribute oder Neben- bezeichnungen, ſo den Adler zu den Füßen des Jupiter, der oft auch auf den Gipfel ſeiner Tempel geſetzt wurde, den Tiger in dem Zuge des Bakchos, die Pferde am Sonnenwagen u. ſ. w. Symboliſche Bedeutung der menſchlichen Geſtalt. Erſtens: Die aufrechte Stellung bei gänzlicher Losgeriſſenheit von der Erde. — Im organiſchen Naturreich kommt die aufgerich- tete Stellung nur der Pflanze zu, aber ſie iſt in der Cohäſion mit der Erde. In dem Thierreich, welches den Uebergang von der Pflanze zum Menſchen macht, tritt ſehr bedeutend die horizontale Stel- lung ein (es iſt eine allmähliche Umkehrung der Pflanze). Mit der horizontalen Stellung iſt die Abhängigkeit von der Erde angedeutet. Der Theil des Leibs, welcher die Werkzeuge der Nahrung in ſich ſchließt, bildet ein förmliches Gewicht, wodurch der ganze Leib nieder- gezogen wird. Die Bedeutung der aufrechten Geſtalt iſt alſo wirklich die, welche ſchon in Ovids Metamorphoſen 1 bezeichnet iſt: Os homini sublime dedit caelumque tueri Jussit, et erectos ad sidera tollere voltus. Zweitens: Symmetriſcher Bau — und zwar ſo, daß die Linie, welche die zwei Hälften ſcheidet, auch perpendikular gegen die Erde 1 I, 85. 86.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/280>, abgerufen am 25.11.2024.