Kapitäl mit drei übereinanderstehenden Reihen von Akanthusblättern und verschiedenen zwischen denselben sich hervordringenden Stengeln, die sich oben an dem Deckel in Schneckenformen falten. Obgleich es nicht unmöglich ist, daß ein Anblick wie der von Vitruvius erzählte einem aufmerksamen Künstler die erste Veranlassung einer solchen Er- findung gegeben, und auf jeden Fall die erzählte Geschichte, wenn nicht wahr, doch angenehm erfunden ist, so müssen wir doch diesem Blätter- schmuck in der Idee eine allgemeinere Nothwendigkeit geben. Es ist die der Anspielung auf die Formen organischer Natur.
Die größere Strenge, welche die korinthische Ordnung in dem rhythmischen Theil hat, erlaubt es ihr von der andern Seite mehr die natürliche Schönheit zu suchen, wie der natürliche Putz (Blumen etc.) am meisten der schönen jungfräulichen Gestalt, dagegen dem reiferen weiblichen Alter mehr der conventionelle Schmuck ziemt. Die größte Vereinigung des Entgegengesetzten in der korinthischen Ordnung, des Geraden mit dem Runden, des Glatten mit dem Gebogenen, des Einfältigen mit dem Gezierten gibt ihr eben jene melodische Fülle, durch welche sie sich vor den andern auszeichnet.
Es sollte nun noch von den besonderen Zierathen der Archi- tektur die Rede seyn, von den Werken der höheren Plastik, die als Basreliefs z. B. den Fronton, oder als Statuen die Eingänge oder einzelne Gipfel des Gebäudes zieren. Allein da bereits im Vorher- gehenden angedeutet ist, inwieweit in der Architektur höhere organische Formen anticipirt werden können, so ist die Hauptsache darüber gesagt. Die Architektur braucht auch die geringeren Formen von ihr selbst zur Zierath, z. B. Schilde, womit, sowie mit Stierköpfen, die Metopen ausgefüllt wurden. Wahrscheinlich geschah dieß aus Nachahmung von wirklich aufgehangenen Schilden, wie die am Tempel des Apollon zu Delphos aus der marathonischen Beute.
Von den geringeren Formen der Architektur, sofern sie sich in Vasen, Bechern, Candelabern u. s. w. ausdrückt, noch etwas zu erwäh- nen, wäre gleichfalls überflüssig. Ich gehe daher zu der zweiten Form der Plastik fort.
Kapitäl mit drei übereinanderſtehenden Reihen von Akanthusblättern und verſchiedenen zwiſchen denſelben ſich hervordringenden Stengeln, die ſich oben an dem Deckel in Schneckenformen falten. Obgleich es nicht unmöglich iſt, daß ein Anblick wie der von Vitruvius erzählte einem aufmerkſamen Künſtler die erſte Veranlaſſung einer ſolchen Er- findung gegeben, und auf jeden Fall die erzählte Geſchichte, wenn nicht wahr, doch angenehm erfunden iſt, ſo müſſen wir doch dieſem Blätter- ſchmuck in der Idee eine allgemeinere Nothwendigkeit geben. Es iſt die der Anſpielung auf die Formen organiſcher Natur.
Die größere Strenge, welche die korinthiſche Ordnung in dem rhythmiſchen Theil hat, erlaubt es ihr von der andern Seite mehr die natürliche Schönheit zu ſuchen, wie der natürliche Putz (Blumen ꝛc.) am meiſten der ſchönen jungfräulichen Geſtalt, dagegen dem reiferen weiblichen Alter mehr der conventionelle Schmuck ziemt. Die größte Vereinigung des Entgegengeſetzten in der korinthiſchen Ordnung, des Geraden mit dem Runden, des Glatten mit dem Gebogenen, des Einfältigen mit dem Gezierten gibt ihr eben jene melodiſche Fülle, durch welche ſie ſich vor den andern auszeichnet.
Es ſollte nun noch von den beſonderen Zierathen der Archi- tektur die Rede ſeyn, von den Werken der höheren Plaſtik, die als Basreliefs z. B. den Fronton, oder als Statuen die Eingänge oder einzelne Gipfel des Gebäudes zieren. Allein da bereits im Vorher- gehenden angedeutet iſt, inwieweit in der Architektur höhere organiſche Formen anticipirt werden können, ſo iſt die Hauptſache darüber geſagt. Die Architektur braucht auch die geringeren Formen von ihr ſelbſt zur Zierath, z. B. Schilde, womit, ſowie mit Stierköpfen, die Metopen ausgefüllt wurden. Wahrſcheinlich geſchah dieß aus Nachahmung von wirklich aufgehangenen Schilden, wie die am Tempel des Apollon zu Delphos aus der marathoniſchen Beute.
Von den geringeren Formen der Architektur, ſofern ſie ſich in Vaſen, Bechern, Candelabern u. ſ. w. ausdrückt, noch etwas zu erwäh- nen, wäre gleichfalls überflüſſig. Ich gehe daher zu der zweiten Form der Plaſtik fort.
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Kapitäl mit drei übereinanderſtehenden Reihen von Akanthusblättern
und verſchiedenen zwiſchen denſelben ſich hervordringenden Stengeln,
die ſich oben an dem Deckel in Schneckenformen falten. Obgleich es
nicht unmöglich iſt, daß ein Anblick wie der von Vitruvius erzählte
einem aufmerkſamen Künſtler die erſte Veranlaſſung einer ſolchen Er-
findung gegeben, und auf jeden Fall die erzählte Geſchichte, wenn nicht
wahr, doch angenehm erfunden iſt, ſo müſſen wir doch dieſem Blätter-
ſchmuck in der Idee eine allgemeinere Nothwendigkeit geben. Es iſt
die der Anſpielung auf die Formen organiſcher Natur.
Die größere Strenge, welche die korinthiſche Ordnung in dem
rhythmiſchen Theil hat, erlaubt es ihr von der andern Seite mehr die
natürliche Schönheit zu ſuchen, wie der natürliche Putz (Blumen ꝛc.)
am meiſten der ſchönen jungfräulichen Geſtalt, dagegen dem reiferen
weiblichen Alter mehr der conventionelle Schmuck ziemt. Die größte
Vereinigung des Entgegengeſetzten in der korinthiſchen Ordnung, des
Geraden mit dem Runden, des Glatten mit dem Gebogenen, des
Einfältigen mit dem Gezierten gibt ihr eben jene melodiſche Fülle,
durch welche ſie ſich vor den andern auszeichnet.
Es ſollte nun noch von den beſonderen Zierathen der Archi-
tektur die Rede ſeyn, von den Werken der höheren Plaſtik, die als
Basreliefs z. B. den Fronton, oder als Statuen die Eingänge oder
einzelne Gipfel des Gebäudes zieren. Allein da bereits im Vorher-
gehenden angedeutet iſt, inwieweit in der Architektur höhere organiſche
Formen anticipirt werden können, ſo iſt die Hauptſache darüber geſagt.
Die Architektur braucht auch die geringeren Formen von ihr ſelbſt zur
Zierath, z. B. Schilde, womit, ſowie mit Stierköpfen, die Metopen
ausgefüllt wurden. Wahrſcheinlich geſchah dieß aus Nachahmung von
wirklich aufgehangenen Schilden, wie die am Tempel des Apollon zu
Delphos aus der marathoniſchen Beute.
Von den geringeren Formen der Architektur, ſofern ſie ſich in
Vaſen, Bechern, Candelabern u. ſ. w. ausdrückt, noch etwas zu erwäh-
nen, wäre gleichfalls überflüſſig. Ich gehe daher zu der zweiten Form
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/274>, abgerufen am 25.11.2024.
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