strebt, so auch die Architektur. Auch die Säule also wird in sich auf eine bedeutende Weise geschlossen. Nach unten erhält sie einen Fuß, das architektonische Gebild wird dadurch ganz aus der Cohärenz mit der Erde gerissen, es steht frei auf ihr wie das Thier, denn wäre die Säule nach unten nicht auf bedeutende Weise geschlossen, so könnte sie, als in die Erde versenkt oder ihre Wurzeln darein senkend erscheinen, das Ganze würde zur Pflanzennatur zurücksinken. Nach oben wird die Säule durch den Kopf auf verschiedene Weise geschlossen, durch das einfache Capitäl der dorischen Ordnung, durch die Schneckenwindungen der jonischen, wo gleichsam als auf der Grenze das höhere Vorspiel des Thierischen beginnt, und in der concentrischen Blätterstellung der korinthischen.
Dasselbe findet sich nun wieder im Ganzen, welches nach unten durch die Säulen als die Füße geschlossen wird. Der mittlere Theil des Gebäudes bedeutet den mittleren Theil des Leibes, wo äußerlich die größte Symmetrie herrschen muß, und wo, wie im thierischen Leib, erst das wahrhaft Innere, welches wieder selbständige Ganze für sich bildet, beginnt (und schon bemerkt, daß nach innen auch hier unbe- schadet der Schönheit mehr auf das Bedürfniß als auf die Symmetrie gesehen werden kann). Je näher dem Gipfel, desto bedeutender werden alle Formen. Das Fronton bedeutet schon dem Namen nach die Stirne des Gebäudes. Dieß ist der Ort der vorzüglichsten Verzierungen durch Basreliefs, wo die Stirn gleichsam als Sitz der Gedanken äußerlich angedeutet wird. Nach innen schließt sich das Ganze durch das Gebälk, welches seiner inneren Construktion nach eine concentrische Stellung hat und ein sich selbst tragendes und haltendes Ganzes ist. Das Dach, wo es stattfindet, kann als die äußerliche, organisch indifferente Bedeckung betrachtet werden. Der vollkommenste und bedeutendste Beschluß des Ganzen aber ist ein vollkommen gewölbtes Dach, d. h. die Kuppel. Hier ist die concentrische Stellung am vollkommensten, und indem hier sich die einzelnen Theile wechselseitig tragen und unterstützen, entsteht die vollkommenste Totalität, ein Bild des allgemeinen, alles tragenden Or- ganismus und der himmlischen Umwölbung.
ſtrebt, ſo auch die Architektur. Auch die Säule alſo wird in ſich auf eine bedeutende Weiſe geſchloſſen. Nach unten erhält ſie einen Fuß, das architektoniſche Gebild wird dadurch ganz aus der Cohärenz mit der Erde geriſſen, es ſteht frei auf ihr wie das Thier, denn wäre die Säule nach unten nicht auf bedeutende Weiſe geſchloſſen, ſo könnte ſie, als in die Erde verſenkt oder ihre Wurzeln darein ſenkend erſcheinen, das Ganze würde zur Pflanzennatur zurückſinken. Nach oben wird die Säule durch den Kopf auf verſchiedene Weiſe geſchloſſen, durch das einfache Capitäl der doriſchen Ordnung, durch die Schneckenwindungen der joniſchen, wo gleichſam als auf der Grenze das höhere Vorſpiel des Thieriſchen beginnt, und in der concentriſchen Blätterſtellung der korinthiſchen.
Daſſelbe findet ſich nun wieder im Ganzen, welches nach unten durch die Säulen als die Füße geſchloſſen wird. Der mittlere Theil des Gebäudes bedeutet den mittleren Theil des Leibes, wo äußerlich die größte Symmetrie herrſchen muß, und wo, wie im thieriſchen Leib, erſt das wahrhaft Innere, welches wieder ſelbſtändige Ganze für ſich bildet, beginnt (und ſchon bemerkt, daß nach innen auch hier unbe- ſchadet der Schönheit mehr auf das Bedürfniß als auf die Symmetrie geſehen werden kann). Je näher dem Gipfel, deſto bedeutender werden alle Formen. Das Fronton bedeutet ſchon dem Namen nach die Stirne des Gebäudes. Dieß iſt der Ort der vorzüglichſten Verzierungen durch Basreliefs, wo die Stirn gleichſam als Sitz der Gedanken äußerlich angedeutet wird. Nach innen ſchließt ſich das Ganze durch das Gebälk, welches ſeiner inneren Conſtruktion nach eine concentriſche Stellung hat und ein ſich ſelbſt tragendes und haltendes Ganzes iſt. Das Dach, wo es ſtattfindet, kann als die äußerliche, organiſch indifferente Bedeckung betrachtet werden. Der vollkommenſte und bedeutendſte Beſchluß des Ganzen aber iſt ein vollkommen gewölbtes Dach, d. h. die Kuppel. Hier iſt die concentriſche Stellung am vollkommenſten, und indem hier ſich die einzelnen Theile wechſelſeitig tragen und unterſtützen, entſteht die vollkommenſte Totalität, ein Bild des allgemeinen, alles tragenden Or- ganismus und der himmliſchen Umwölbung.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0265"n="589"/>ſtrebt, ſo auch die Architektur. Auch die Säule alſo wird in ſich auf<lb/>
eine bedeutende Weiſe geſchloſſen. Nach unten erhält ſie einen Fuß,<lb/>
das architektoniſche Gebild wird dadurch ganz aus der Cohärenz mit der<lb/>
Erde geriſſen, es ſteht frei auf ihr wie das Thier, denn wäre die<lb/>
Säule nach unten nicht auf bedeutende Weiſe geſchloſſen, ſo könnte ſie,<lb/>
als in die Erde verſenkt oder ihre Wurzeln darein ſenkend erſcheinen,<lb/>
das Ganze würde zur Pflanzennatur zurückſinken. Nach oben wird die<lb/>
Säule durch den Kopf auf verſchiedene Weiſe geſchloſſen, durch das<lb/>
einfache Capitäl der doriſchen Ordnung, durch die Schneckenwindungen<lb/>
der joniſchen, wo gleichſam als auf der Grenze das höhere Vorſpiel<lb/>
des Thieriſchen beginnt, und in der concentriſchen Blätterſtellung der<lb/>
korinthiſchen.</p><lb/><p>Daſſelbe findet ſich nun wieder im Ganzen, welches nach unten<lb/>
durch die Säulen als die Füße geſchloſſen wird. Der mittlere Theil<lb/>
des Gebäudes bedeutet den mittleren Theil des Leibes, wo äußerlich<lb/>
die größte Symmetrie herrſchen muß, und wo, wie im thieriſchen Leib,<lb/>
erſt das wahrhaft Innere, welches wieder ſelbſtändige Ganze für ſich<lb/>
bildet, beginnt (und ſchon bemerkt, daß nach innen auch hier unbe-<lb/>ſchadet der Schönheit mehr auf das Bedürfniß als auf die Symmetrie<lb/>
geſehen werden kann). Je näher dem Gipfel, deſto bedeutender werden<lb/>
alle Formen. Das Fronton bedeutet ſchon dem Namen nach die Stirne<lb/>
des Gebäudes. Dieß iſt der Ort der vorzüglichſten Verzierungen durch<lb/>
Basreliefs, wo die Stirn gleichſam als Sitz der Gedanken äußerlich<lb/>
angedeutet wird. Nach innen ſchließt ſich das Ganze durch das Gebälk,<lb/>
welches ſeiner inneren Conſtruktion nach eine concentriſche Stellung hat<lb/>
und ein ſich ſelbſt tragendes und haltendes Ganzes iſt. Das Dach,<lb/>
wo es ſtattfindet, kann als die äußerliche, organiſch indifferente Bedeckung<lb/>
betrachtet werden. Der vollkommenſte und bedeutendſte Beſchluß des<lb/>
Ganzen aber iſt ein vollkommen gewölbtes Dach, d. h. die Kuppel. Hier<lb/>
iſt die concentriſche Stellung am vollkommenſten, und indem hier ſich<lb/>
die einzelnen Theile wechſelſeitig tragen und unterſtützen, entſteht die<lb/>
vollkommenſte Totalität, ein Bild des allgemeinen, alles tragenden Or-<lb/>
ganismus und der himmliſchen Umwölbung.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[589/0265]
ſtrebt, ſo auch die Architektur. Auch die Säule alſo wird in ſich auf
eine bedeutende Weiſe geſchloſſen. Nach unten erhält ſie einen Fuß,
das architektoniſche Gebild wird dadurch ganz aus der Cohärenz mit der
Erde geriſſen, es ſteht frei auf ihr wie das Thier, denn wäre die
Säule nach unten nicht auf bedeutende Weiſe geſchloſſen, ſo könnte ſie,
als in die Erde verſenkt oder ihre Wurzeln darein ſenkend erſcheinen,
das Ganze würde zur Pflanzennatur zurückſinken. Nach oben wird die
Säule durch den Kopf auf verſchiedene Weiſe geſchloſſen, durch das
einfache Capitäl der doriſchen Ordnung, durch die Schneckenwindungen
der joniſchen, wo gleichſam als auf der Grenze das höhere Vorſpiel
des Thieriſchen beginnt, und in der concentriſchen Blätterſtellung der
korinthiſchen.
Daſſelbe findet ſich nun wieder im Ganzen, welches nach unten
durch die Säulen als die Füße geſchloſſen wird. Der mittlere Theil
des Gebäudes bedeutet den mittleren Theil des Leibes, wo äußerlich
die größte Symmetrie herrſchen muß, und wo, wie im thieriſchen Leib,
erſt das wahrhaft Innere, welches wieder ſelbſtändige Ganze für ſich
bildet, beginnt (und ſchon bemerkt, daß nach innen auch hier unbe-
ſchadet der Schönheit mehr auf das Bedürfniß als auf die Symmetrie
geſehen werden kann). Je näher dem Gipfel, deſto bedeutender werden
alle Formen. Das Fronton bedeutet ſchon dem Namen nach die Stirne
des Gebäudes. Dieß iſt der Ort der vorzüglichſten Verzierungen durch
Basreliefs, wo die Stirn gleichſam als Sitz der Gedanken äußerlich
angedeutet wird. Nach innen ſchließt ſich das Ganze durch das Gebälk,
welches ſeiner inneren Conſtruktion nach eine concentriſche Stellung hat
und ein ſich ſelbſt tragendes und haltendes Ganzes iſt. Das Dach,
wo es ſtattfindet, kann als die äußerliche, organiſch indifferente Bedeckung
betrachtet werden. Der vollkommenſte und bedeutendſte Beſchluß des
Ganzen aber iſt ein vollkommen gewölbtes Dach, d. h. die Kuppel. Hier
iſt die concentriſche Stellung am vollkommenſten, und indem hier ſich
die einzelnen Theile wechſelſeitig tragen und unterſtützen, entſteht die
vollkommenſte Totalität, ein Bild des allgemeinen, alles tragenden Or-
ganismus und der himmliſchen Umwölbung.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/265>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.