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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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so ist die höchste Norm, wie überall, so auch hier, daß die Kunst
uns die Formen einer höheren Welt und die Dinge, wie sie in dieser
geschehen, darzustellen hat. Das Reich der Ideen ist das Reich der
adäquaten und klaren Vorstellungen, wie das Reich der Erscheinung das
der unangemessenen, dunklen und verworrenen. In dem Reich der Er-
scheinung trennt sich Form und Stoff, Thätigkeit und Seyn. Im Reich
des Absoluten ist beides eins, die höchste Ruhe ist die höchste Thätigkeit,
und umgekehrt. Alle diese Charaktere müssen übergehen in das, was
Abdruck des Absoluten seyn will. Wir würden sie schwerlich anders
bezeichnen, als wie sie längst Winkelmann bezeichnet hat, der Vater
aller Wissenschaft von der Kunst, dessen Ansichten noch jetzt die höchsten
sind und es immer bleiben werden. Das Adäquate und Vollkommene
der Vorstellungen drückt sich in dem Gegenstand durch dasjenige aus,
was Winkelmann die edle Einfalt nennt, sowie jene ruhige Macht,
die, um als Macht zu erscheinen, nicht nöthig hat, aus dem Gleich-
gewicht ihres Daseyns zu weichen, das ist, was Winkelmann als die
stille Größe bezeichnet hat. Auch hier wieder stehen uns nun die
Griechen als Urbilder da. Wie die Tiefe des Meers jederzeit ruhig
bleibt, das Oberste mag noch so rasch und bewegt seyn, so zeigt der
Ausdruck der griechischen Figuren bei allen Leidenschaften eine ruhige
und gesetzte Seele. In dem Ausdruck der Schmerzen und der körper-
lichen Erstarrung selbst sehen wir die Seele siegen und als ein göttliches
Licht von unverderblicher Heiterkeit über der Gestalt aufgehen. Eine
solche Seele ist in dem Gesichte des Laokoon und in dem ganzen Leibe
ausgedrückt (denn nur von der Plastik sind die passenden Beispiele des
höchsten symbolischen Styls herzunehmen). "Der Schmerz", sagt Win-
kelmann in seiner herrlichen Beschreibung dieses Werks 1, "der Schmerz,
welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und
den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten,
an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden
glaubet, dieser Schmerz äußert sich dennoch mit keiner Wuth in dem

1 a. a. O. 1 Bd., S. 31 ff.

ſo iſt die höchſte Norm, wie überall, ſo auch hier, daß die Kunſt
uns die Formen einer höheren Welt und die Dinge, wie ſie in dieſer
geſchehen, darzuſtellen hat. Das Reich der Ideen iſt das Reich der
adäquaten und klaren Vorſtellungen, wie das Reich der Erſcheinung das
der unangemeſſenen, dunklen und verworrenen. In dem Reich der Er-
ſcheinung trennt ſich Form und Stoff, Thätigkeit und Seyn. Im Reich
des Abſoluten iſt beides eins, die höchſte Ruhe iſt die höchſte Thätigkeit,
und umgekehrt. Alle dieſe Charaktere müſſen übergehen in das, was
Abdruck des Abſoluten ſeyn will. Wir würden ſie ſchwerlich anders
bezeichnen, als wie ſie längſt Winkelmann bezeichnet hat, der Vater
aller Wiſſenſchaft von der Kunſt, deſſen Anſichten noch jetzt die höchſten
ſind und es immer bleiben werden. Das Adäquate und Vollkommene
der Vorſtellungen drückt ſich in dem Gegenſtand durch dasjenige aus,
was Winkelmann die edle Einfalt nennt, ſowie jene ruhige Macht,
die, um als Macht zu erſcheinen, nicht nöthig hat, aus dem Gleich-
gewicht ihres Daſeyns zu weichen, das iſt, was Winkelmann als die
ſtille Größe bezeichnet hat. Auch hier wieder ſtehen uns nun die
Griechen als Urbilder da. Wie die Tiefe des Meers jederzeit ruhig
bleibt, das Oberſte mag noch ſo raſch und bewegt ſeyn, ſo zeigt der
Ausdruck der griechiſchen Figuren bei allen Leidenſchaften eine ruhige
und geſetzte Seele. In dem Ausdruck der Schmerzen und der körper-
lichen Erſtarrung ſelbſt ſehen wir die Seele ſiegen und als ein göttliches
Licht von unverderblicher Heiterkeit über der Geſtalt aufgehen. Eine
ſolche Seele iſt in dem Geſichte des Laokoon und in dem ganzen Leibe
ausgedrückt (denn nur von der Plaſtik ſind die paſſenden Beiſpiele des
höchſten ſymboliſchen Styls herzunehmen). „Der Schmerz“, ſagt Win-
kelmann in ſeiner herrlichen Beſchreibung dieſes Werks 1, „der Schmerz,
welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und
den man ganz allein, ohne das Geſicht und andere Theile zu betrachten,
an dem ſchmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe ſelbſt zu empfinden
glaubet, dieſer Schmerz äußert ſich dennoch mit keiner Wuth in dem

1 a. a. O. 1 Bd., S. 31 ff.
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[557/0233] ſo iſt die höchſte Norm, wie überall, ſo auch hier, daß die Kunſt uns die Formen einer höheren Welt und die Dinge, wie ſie in dieſer geſchehen, darzuſtellen hat. Das Reich der Ideen iſt das Reich der adäquaten und klaren Vorſtellungen, wie das Reich der Erſcheinung das der unangemeſſenen, dunklen und verworrenen. In dem Reich der Er- ſcheinung trennt ſich Form und Stoff, Thätigkeit und Seyn. Im Reich des Abſoluten iſt beides eins, die höchſte Ruhe iſt die höchſte Thätigkeit, und umgekehrt. Alle dieſe Charaktere müſſen übergehen in das, was Abdruck des Abſoluten ſeyn will. Wir würden ſie ſchwerlich anders bezeichnen, als wie ſie längſt Winkelmann bezeichnet hat, der Vater aller Wiſſenſchaft von der Kunſt, deſſen Anſichten noch jetzt die höchſten ſind und es immer bleiben werden. Das Adäquate und Vollkommene der Vorſtellungen drückt ſich in dem Gegenſtand durch dasjenige aus, was Winkelmann die edle Einfalt nennt, ſowie jene ruhige Macht, die, um als Macht zu erſcheinen, nicht nöthig hat, aus dem Gleich- gewicht ihres Daſeyns zu weichen, das iſt, was Winkelmann als die ſtille Größe bezeichnet hat. Auch hier wieder ſtehen uns nun die Griechen als Urbilder da. Wie die Tiefe des Meers jederzeit ruhig bleibt, das Oberſte mag noch ſo raſch und bewegt ſeyn, ſo zeigt der Ausdruck der griechiſchen Figuren bei allen Leidenſchaften eine ruhige und geſetzte Seele. In dem Ausdruck der Schmerzen und der körper- lichen Erſtarrung ſelbſt ſehen wir die Seele ſiegen und als ein göttliches Licht von unverderblicher Heiterkeit über der Geſtalt aufgehen. Eine ſolche Seele iſt in dem Geſichte des Laokoon und in dem ganzen Leibe ausgedrückt (denn nur von der Plaſtik ſind die paſſenden Beiſpiele des höchſten ſymboliſchen Styls herzunehmen). „Der Schmerz“, ſagt Win- kelmann in ſeiner herrlichen Beſchreibung dieſes Werks 1, „der Schmerz, welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Geſicht und andere Theile zu betrachten, an dem ſchmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe ſelbſt zu empfinden glaubet, dieſer Schmerz äußert ſich dennoch mit keiner Wuth in dem 1 a. a. O. 1 Bd., S. 31 ff.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/233>, abgerufen am 22.11.2024.